Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW (AJuM)
„Ich misstraue meiner Fantasie“
Der Heinrich-Wolgast-Preis der AJuM 2021 geht an Christoph Scheuring („Sturm“ ). Im E&W-Interview erklärt der Journalist und Autor, warum Naturschutz und Sozialkritik für ihn zusammengehören und der derzeitige Klimaschutz die Natur zerstöre.
- E&W: Ihr Buch über Klimawandel, Massentierhaltung und eine junge Frau, die sich radikal für Tierschutz engagiert, ist von drastischer Anschaulichkeit. Zum Beispiel Ihre Schilderung eines Schlachthofbesuchs. Waren Sie selbst schon einmal dort?
Christoph Scheuring: Ja, und der Moment des Todes hat mir damals den Atem genommen. Die Frage, an welchem Punkt hört das Leben auf und an welchem fängt der Tod an, lässt mich seitdem nicht mehr los.
- E&W: Brauchen Sie das Eintauchen in die Realität, um zu schreiben?
Scheuring: Wenn ich über etwas schreiben will, muss ich es gesehen haben. Ich misstraue meiner Fantasie. Ich habe auch nicht so viel Talent, mir Sachen auszudenken. Letztlich glaube ich, dass es ohnehin unmöglich ist, etwas völlig Neues zu schaffen. Wir reproduzieren mehr oder weniger immer das, was wir in irgendeiner Form erlebt haben. Eine Geschichte, die ich nicht richtig gut recherchiert habe, bleibt flach. Erst die Wirklichkeit macht ein Buch lebendig.
- E&W: Sie sind Journalist. Kommen die Inspirationen für Ihren Roman aus Ihren Recherchen?
Scheuring: Das ist die eine Wurzel. Ich war als Reporter im Schlachthof, ich war mit Schwertfischfischern in Kanada unterwegs, ich habe auf einem Frachtsegler mit straffällig gewordenen Jugendlichen einen Sturm erlebt, der so ähnlich war wie der im Buch.
- E&W: Und die zweite Wurzel für Ihre Geschichten ...?
Scheuring: … ist bei „Sturm“ mein Verhältnis zur Natur. Mit zehn Jahren habe ich mit dem Angeln angefangen. Oft habe ich mich schon morgens vor der Schule mit meiner Angel aus dem Haus geschlichen. Draußen am Wasser habe ich mich wirklich lebendig und mit der Natur verbunden gefühlt. Aber das führte am Ende zu einem Dilemma: Je mehr ich geangelt habe, desto mehr habe ich die Natur geliebt. Und je mehr ich die Natur geliebt habe, desto weniger konnte ich angeln. Mit welchem Recht töte ich das, was ich doch eigentlich liebe?
- E&W: Diese Frage hat Sie nicht mehr losgelassen?
Scheuring: Genau, diesen Widerspruch halte ich immer weniger aus. „Sturm“ ist auch der Versuch, bei diesem Thema für mich selbst Licht ins Dunkel zu bringen.
- E&W: Essen Sie heute noch Fleisch?
Scheuring: Zumindest habe ich mit dem Angeln aufgehört. Manchmal esse ich noch Fleisch. Aber nichts Tierisches mehr aus industrieller Produktion, auch keine Eier und keine Milch.
- E&W: Nennen Sie „Sturm“ deshalb auch Ihren „persönlichsten Roman“?
Scheuring: Unser Verhältnis zur Natur ist mein großes Lebensthema. Und dass wir Menschen gerade dabei sind, die Natur, wie wir sie kennen, für immer zu zerstören, ist mein persönliches, ganz großes Unglück.
- E&W: Warum haben Sie kein Buch für Erwachsene geschrieben?
Scheuring: Ich finde, meinen Roman können auch Erwachsene sehr gut lesen. An Jugendlichen mag ich, dass sie noch einen anderen, unmittelbareren Zugang zur Literatur haben. Jugendlichen geht es nicht um irgendwelche literarischen Kategorien. Außerdem sind die großen Themen der Jugendlichen auch die meiner Bücher: die große, alles umblasende Liebe, Gerechtigkeit, das Graben nach Wahrheit in einer verlogenen, erwachsenen Welt. Wenn es mir gelingt, junge Menschen mit meiner Geschichte mitzureißen, ist es ein gutes Buch. Wenn nicht, habe ich versagt.
- E&W: Was möchten Sie bei den jungen Leserinnen und Lesern mit „Sturm“ erreichen?
Scheuring: Ich bin überzeugt, dass der Mensch nur das wirklich schützt, was er liebt. Das ist in jeder Kultur dieser Welt so. Wenn ich will, dass wir Menschen die Natur schützen, muss ich es schaffen, dass wir die Natur wieder lieben. Das fehlt mir sogar bei Bewegungen wie Fridays for Future, die zum Großteil von einer städtischen Kultur geprägt sind. Sie wollen einseitig das Klima retten und dabei auch in Kauf nehmen, dass die Natur zerstört wird. Genau wie die Grünen. Aus meiner Sicht hat diese Partei die Natur brutaler zerstört als jede andere politische Organisation in den vergangenen 20 Jahren.
- E&W: Das müssen Sie erklären.
Scheuring: Zum Beispiel haben die Grünen vor 20 Jahren dafür gesorgt, dass sich überall Biogasanlagen etabliert haben. Mittlerweile bedecken Maisfelder knapp ein Viertel aller landwirtschaftlichen Flächen. Für die Natur sind Maisfelder eine Katastrophe: Überdüngung, Erosion, Bodenverdichtung, ein nie gekanntes Artensterben. Ähnlich verheerend sind jetzt die hektargroßen Solarfelder, mit denen wir die Natur zupflastern. Oder die Windräder, die wir in die Wälder rammen. Zurzeit betreiben wir Klimaschutz, indem wir die Natur zerstören. Wenn wir die Natur liebten, würden wir das nicht tun.
- E&W: Sie belassen es in Ihrem Buch nicht beim Blick auf die Natur, sondern thematisieren auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Arbeitsbedingungen zum Beispiel. Warum?
Scheuring: Weil das alles zusammengehört. Wenn ich die Natur liebe, muss ich so vieles in unserer Gesellschaft infrage stellen. Industrielles Schlachten, Ausbeutung in der Arbeitswelt, die Art, wie wir wirtschaften, unseren Konsum, unsere Art zu leben und unser Verhältnis zum Tod. Meine Hauptfigur Nora kommt aus einer Alkoholikerfamilie. Das hat in diesem Buch nicht nur dramaturgische Gründe. Es ist auch ein Bild. Wir Menschen verhalten uns wie Süchtige. Wir alle wissen, dass wir so nicht weitermachen können. Mit dem Ressourcenverbrauch, dem Wachstum, dem Artensterben. Aber wie ein Alkoholiker zucken wir mit den Schultern: „Ich weiß, dass mich das tötet und mache trotzdem weiter.“
- E&W: Auch in „Sturm“ wird nicht einfach wieder alles gut.
Scheuring: Naja, es ist schon ein Happy End. Aber kein klassisches wie im Märchen, sondern eher ein Bekenntnis zu sich selbst. Auch wenn dieses Selbst nicht immer den hetero-normativen Idealen entspricht.
- E&W: Wenn Sie sich wünschen könnten, was Jugendliche nach der Lektüre Ihres Buches tun, wäre das …
Scheuring: … dass sie sich ans Wasser setzen oder auf einen Berg und spüren, wie schön ein Sonnenuntergang ist. Oder dass sie sich im Sturm ans Meer stellen und sich umblasen lassen und fühlen, wie lebendig man sich dabei fühlt. Dreimal lebendiger als mit 1.000 anderen Menschen vor der Mona Lisa im Louvre, zum Beispiel.
Christoph Scheuring: Sturm. Magellan Verlag, Bamberg 2020, 304 S.