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Transformation der Sozialen Arbeit

„Ich konnte die Kids doch nicht allein lassen“

Großer Fachkräftemangel, ständige Erreichbarkeit, häufiger Personalwechsel und fehlende Wertschätzung kennzeichnen die Arbeitssituation vieler Beschäftigter in der stationären Kinder- und Jugendhilfe.

Erzieher Florian Neubauer hat drei Jahre lang in einer Wohngruppe für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene gearbeitet. Ungeplante Überstunden waren die Regel. (Foto: Babette Brandenburg)

Vollbart, Undercut und kräftige Statur: Florian Neubauer ist Ersatzpapa, Role-Model oder auch Sparringspartner. Der 37-jährige Erzieher arbeitete drei Jahre bei einem privaten Träger in einer stationären Wohngruppe für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht bei ihren Eltern leben konnten.

Der ehemalige Maler und Lackierer hatte selbst mehrere Jahre in einer Jugendwohnung gelebt, die positiven Erfahrungen wollte er nun an Jugendliche in ähnlicher Situation weitergeben. Deshalb machte er eine Umschulung zum Erzieher. „Die pädagogischen Fachkräfte waren für mich damals Vorbilder und Orientierungspunkte, die mir geholfen haben, meinen Weg zu gehen“, erzählt Neubauer rückblickend.

Zwei 25-Stunden-Schichten pro Woche

Doch die Beziehungsarbeit wurde überschattet von Arbeitsbedingungen, die ihn immer wieder an seine Grenzen brachten. Wie in dem Bereich üblich arbeitete Neubauer mit einer Vollzeitstelle zwei 25-Stunden-Schichten pro Woche, nur selten war ein Wochenende planbar frei. „Als getrennt lebender Vater konnte ich mein Kind nur unregelmäßig sehen“, sagt er. Dazu kam, dass ein Teil der Arbeitszeit nicht angemessen bezahlt wurde. Für sechs Stunden Nachtbereitschaft erhielt er lediglich eine Pauschale. Häufig standen die Jugendlichen nachts vor seiner Zimmertür und brauchten Hilfe. „Natürlich waren wir dann für sie da“, so der Erzieher.

Sehr belastend waren ungeplante Überstunden und Bereitschaften. So war es keine Seltenheit, dass er in seinen Bereitschaftswochen arbeitsrechtlich nicht gestattete 48 Stunden am Stück arbeitete. „Wenn sich am Wochenende die Ablösung krankmeldete, musste ich selbst herumtelefonieren und eine Vertretung finden“, so Neubauer. Wenn er niemanden erreichte, blieb er im Dienst. „Ich konnte die Kids doch nicht allein lassen.“ Von Vorgesetzten und dem Team fühlte er sich oft hängen gelassen.

„Die Beschäftigten wehren sich nicht in angemessenem Maße gegen diese Arbeitsbedingungen, weil sie die Kinder und Jugendlichen nicht im Stich lassen wollen.“ (Zoe Clark)

Der „hohe emotionale Druck auf die Beschäftigten“ ist laut Zoë Clark, Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe an der Universität Siegen, charakteristisch für diesen Arbeitsbereich. Nicht selten werde zudem an das Verantwortungsgefühl appelliert, damit die Beschäftigten Vertretungen übernehmen. Der Druck verschärfe sich durch den gravierenden Personalmangel in dem Arbeitsbereich, in dem eine hohe Fluktuation herrscht. „Die Beschäftigten wehren sich nicht in angemessenem Maße gegen diese Arbeitsbedingungen, weil sie die Kinder und Jugendlichen nicht im Stich lassen wollen.“ Arbeitgebern, die dieses Dilemma ausnutzen, wirft Clark die „Ausbeutung von Emotionen“ vor.

Ökonomisierung verschärft Konflikte

Auch Jana Zillmer* hat dieses Dilemma erlebt. Bei ihrem Hamburger Arbeitgeber, einem großen freien Träger, „ging es nur ums Geld“. Die Menschen seien nicht gesehen worden, „weder wir Beschäftigten noch die Jugendlichen“, erzählt die Sozialarbeiterin. Das Team aus neun Mitarbeitenden leistete die Intensivbetreuung von neun Jugendlichen mit Gewalt-, Sucht- und Fluchterfahrungen. Die Dienstpläne wurden kurzfristig erstellt, Wünsche nur selten berücksichtigt. Da zudem durchgängig Personalmangel herrschte, häuften sich die Anrufe der Kolleginnen und Kollegen in der Freizeit und am Wochenende mit der Bitte, Vertretungen zu übernehmen. Auch Vorgesetzte riefen an und „hinterfragten meine Haltung, wenn ich nicht einspringen konnte oder wollte“.

„Mit zunehmender Ökonomisierung verschärfen sich die Konflikte zwischen Einrichtungsleitungen und den Teams beziehungsweise Beschäftigten“, analysiert Lukas Underwood, Arbeitssoziologe am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen. Sie entzündeten sich da, „wo die ökonomische Logik der Einrichtungsleitung mit der pädagogischen Logik der Beschäftigten kollidiert“. So hatte Zillmers Arbeitgeber trotz nicht besetzter Stellen im Team entschieden, weitere Jugendliche aufzunehmen und die verfügbaren Plätze voll zu belegen. „Wir haben die Leitung informiert, dass wir unsere Aufgaben, die Betreuung der Jugendlichen schon vorher nicht mehr angemessen schaffen konnten“, berichtet sie.

„ Trotz Überstunden konnten wir die Jugendlichen bei zusätzlichen Terminen wie Arztbesuchen nicht begleiten.“ (Jana Zillmer)

Der Einrichtungsleiter setzte die Aufnahme jedoch durch und begründete dies mit dem hohen wirtschaftlichen Druck. „Wir schwammen, beschränkten uns auf Essen, Trinken, Schulbesuch. Trotz Überstunden konnten wir die Jugendlichen bei zusätzlichen Terminen wie Arztbesuchen nicht begleiten.“ Für das Team war diese Situation hochgradig belastend. „Wir mussten die Situation hinnehmen, sahen keine andere Möglichkeit“, sagt Zillmer. Eine Beschwerde beim Jugendamt kam nicht in Frage, um dem Träger nicht zu schaden. „Wir hatten die Jugendlichen im Blick. Eine Schließung der Gruppe hätte für sie den Umzug bedeutet.“ Das wollten sie ihnen „nicht antun“.

Der Bereich der stationären Kinder- und Jugendhilfe ist seit Jahren unterfinanziert. Durch den Personalmangel arbeiten viele Teams am Limit. (Foto: IMAGO/Steinach)

Viele wählen die Exit-Strategie

Was Zillmer in dieser Zeit getragen hat, war der enge Zusammenhalt der Beschäftigten. „Ohne ein gutes Team hält man es nicht aus“, resümiert sie rückblickend. Arbeitssoziologe Underwood kommt in einer Studie über die Partizipationsmöglichkeiten in der stationären Kinder- und Jugendhilfe zu dem Ergebnis, dass ein funktionierendes Team, in dem Leitungsaufgaben wie die Erstellung des Dienstplans übernommen werden, den Beschäftigten zudem diverse Partizipationsmöglichkeiten einräumt. Folglich beschreibt er den Arbeitsbereich der stationären Kinder- und Jugendhilfe als einen Tätigkeitsbereich, „der den Beschäftigten vergleichsweise große individuelle Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung des Arbeitsalltags bietet, obwohl die Verankerungen von Betriebsräten und das gewerkschaftliche Engagement der Arbeitnehmerinnen und -nehmer gering ist“.

Diese Partizipationsmöglichkeiten boten sich weder für Zillmer noch für Neubauer, beide haben ihre Beschäftigungsverhältnisse kürzlich gekündigt. Die Sozialarbeiterin hat der stationären Jugendhilfe den Rücken gekehrt, der Erzieher einen neuen Arbeitgeber gefunden. Dies ist laut Underwood eine typische Strategie. „Anstatt den Konflikt offen auszutragen, wird die Exit-Strategie gewählt.“ Der Personalmangel verschärft sich derweil weiter.