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Musisch-kreative Bildung

Ich kann was

Jugendliche profitieren von kreativer Bildung, gerade in Schulen in sozial benachteiligten Bezirken. Trotzdem müssen Fächer wie Kunst und Musik um ihren Stellenwert kämpfen. Ein Besuch an der Bettina-von-Arnim-Schule in Berlin.

Fatma (links) und Luisa (rechts) bereiten sich im Theaterkurs auf das Abitur vor. Fatma schätzt die „großen Freiräume in dem Fach, Luisa, dass „man sich viel intensiver kennenlernen kann“. (Foto: Rolf Schulten)

Bettina-von-Arnim-Schule, ein Dienstag um 8.30 Uhr. Die Hochhäuser des märkischen Viertels ragen hoch in den Berliner Morgenhimmel. Eine Handvoll Jugendlicher hetzt verspätet zu den Klassenzimmern, in der Studiobühne der Jugendkunstschule Atrium nebenan herrscht längst höchste Konzentration. Die Klausurvorbereitung des Theaterkurses der Jahrgangsstufe 13 läuft. In der Früh hat Lehrerin Jelena Fräntzel die Arbeitsblätter für die „spielpraktische Aufgabe“ verteilt: Ein kurzer Dialog zwischen zwei Frauen, die eine lernt Englisch, die andere korrigiert. Wie lässt sich dieses Gespräch anregend inszenieren? Wie wird der Raum bespielt, die Stimme eingesetzt, die Handlung komponiert, der Zuschauende mit Details in die Situation gezogen? In einem halben Jahr ist Abitur, fast alle hier haben Darstellendes Spiel als fünftes Prüfungsfach gewählt.

Die Bettina-von-Arnim-Schule ist eine integrierte Sekundarschule mit musisch-künstlerischem Profil. Wer in der 7. Klasse hierher kommt, kann bis zu neun Stunden die Woche einen Mix aus Theater, Kunst und Musik wählen. Zusätzlich ist an der Ganztagsschule mindestens eine Arbeitsgemeinschaft (AG) Pflicht; die Schülerinnen und Schüler haben die Wahl zwischen Angeboten wie Veranstaltungstechnik oder Instrumentenbau, Songwriting, Orchester, Hip-Hop-Podcasting, Graffiti-Street-Art oder Kunstwerkstatt. Ein Teil der Workshops wird in Zusammenarbeit mit Atrium angeboten, in der Mittagszeit lässt sich zusätzlich Instrumentalunterricht für 19 Euro im Monat buchen. In der Oberstufe gibt es die Leistungskurse Musik oder Kunst, als fünftes Abifach Theater.

„In manchen Elternhäusern gilt künstlerisch-musische Bildung als Spielerei, wichtiger sind Naturwissenschaften oder Mathe, damit die Kinder später mal im Beruf gut Geld verdienen. Dabei profitieren gerade unsere Jugendlichen enorm von künstlerischer Bildung.“ (Noemi Quabeck)

Nicht alle Schülerinnen und Schüler wählen dieses Profil, andere entscheiden sich für die weiteren Schwerpunkte der Schule wie Chinesisch oder MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik). „Einerseits ziehen wir mit unserem Kultur-Schwerpunkt besonders Interessierte an, andererseits haben wir es als Sekundarschule im Kiez damit nicht leicht“, sagt Noemi Quabeck, Fachbereichsleiterin für die künstlerischen Fächer. Viele sozioökonomisch benachteilige Familien leben hier, aus ganz unterschiedlichen Kulturen. Quabeck: „In manchen Elternhäusern gilt künstlerisch-musische Bildung als Spielerei, wichtiger sind Naturwissenschaften oder Mathe, damit die Kinder später mal im Beruf gut Geld verdienen. Dabei profitieren gerade unsere Jugendlichen enorm von künstlerischer Bildung.“

Zum Beispiel beim Theaterspiel. „Es macht Spaß, sich selbst in unterschiedlichen Rollen kennenzulernen“, sagt Chris. „Emotional lernt man viel dazu.“ Wie neulich, als Chris, Fatma und Patrick rassistische Alltagssituationen nachgespielt haben, die Chris mit seiner dunklen Haut und Fatma als gläubige Muslima mit Kopftuch immer wieder erleben. Chris: „Das hat mir geholfen, gelassener auf Beleidigungen zu reagieren.“ Wenn alle gemeinsam lernen, Scham zu überwinden, auch mal vor anderen zu schreien, zu weinen, sich zu zeigen, kommt man sich näher. Lehrerin Fräntzel: „Es ist unglaublich, wie sehr sich die Jugendlichen weiterentwickeln.“ Sie lernten, Konflikte im direkten Miteinander auszuhalten und zu bewältigen, ertasteten neue Facetten ihrer Persönlichkeit, könnten sich ausprobieren, und gerade zurückhaltende Jugendliche würden mutiger und selbstbewusster.

Bundesweit fehlen Lehrkräfte für Musik und Kunst

Fachbereichsleiterin Quabeck, Lehrerin für Musik und Geschichte, erlebt das auch in Musik. Schülerinnen und Schüler blühen auf, wenn sie im Orchester zusammen etwas Großes gestalten. Es berührt sie, wenn Quabeck mit ihnen in ein Jugendkonzert der Berliner Philharmonie geht, wo viele von ihnen noch nie waren. Schülerinnen und Schüler mit schlechten Noten in anderen Fächern werden gestärkt, denn sie erfahren hier: Ich kann was.

Trotzdem wird laut aktueller PISA Studie kreative Bildung in Deutschland immer noch nicht ausreichend gefördert, gerade an Sekundarschulen. Bundesweit fehlen Lehrkräfte für Musik und Kunst, viele Schulen behelfen sich mit Quereinsteigenden. Anderswo hakt es an der Ausstattung, der Kreativunterricht muss gestrichen werden. Immerhin: Schulen mit musisch-künstlerischem  Schwerpunkt wie die Bettina-von-Arnim-Schule haben einen relativ guten Stand. Die Ausstattung ist gut, der Schwerpunkt ziehe qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer an, so Quabeck. Beispiel Musik: 13 Lehrkräfte hat der Fachbereich, das reicht für das Profil.

Gleichzeitig wird die Kulturarbeit in Berlin unterstützt von der Initiative Kulturagenten. Seit 2015 fördert das Programm kulturelle Schulentwicklung, 40 Schulen aus zwölf Bezirken nehmen teil. Die Kulturagenten beraten die Bettina-von-Arnim-Schule bei der Entwicklung des Schulprofils, vermitteln Künstlerinnen und Künstler für Projektarbeit oder organisieren Kooperationen mit außerschulischen Lernorten. Sie sitzen mit Lehrkräften, Schulleitung sowie Schülerinnen und Schülern in der „Steuergruppe Kultur“, die neue Kulturprojekte und das jährliche Festival „More than Arts“ mit dem Atrium plant. Drei Tage Aufführungen, Konzerte, Feststimmung.

Für Kinder und Jugendlichen sei Musik wichtig, „um sich selbst zu entwickeln, an Kultur teilzuhaben“, sagt Musiklehrer Mica Brashear. (Foto: Rolf Schulten)

Dutzende kleine, selbstorganisierte Bands

Von Haus acht hallt schon von Weitem Musik aus den Gängen. Rechts die Keyboards, links Flügel und Gitarren. Raum 8.24. Paul und Sascha sitzen tief über die Pianos gebeugt, langsam fahren sie mit den Fingerspitzen die Tasten entlang. D, f, a. D, f, a. Wie ein alter New Yorker Jazzmusiker hockt Ephraim am Schlagzeug, Sonnenbrille, Basecap, graues Shirt, lässig wippen die Drumsticks in seinen Händen. 40 Minuten lang üben die Neuntklässler die Hauptzeile des Songs „Flexin“ an ihren Instrumenten, dann holt Lehrer Micah Brashear alle zusammen, setzt sich ans E-Piano, los geht’s: „Eins, zwei, drei. Hey, ja, das ist perfekt, gebt mir Takt vier.“

Brashear kommt aus New York, war lange Profi-Musiker und ist seit 14 Jahren Lehrer an der Schule, inzwischen leitet er den Fachbereich. Ihm geht es nicht um Noten und Analyse. „Die Schülerinnen und Schüler sollen sich selbst als Musikerinnen und Musiker erleben. Deshalb behandele ich sie wie Kolleginnen oder Kollegen in einer Band.“ Und umso mehr freut es ihn, dass sich neben dem großen Ensemble längst Dutzende kleiner Bands gebildet haben, fast allesamt selbstorganisiert auf Initiative der Jugendlichen.

„Aber gerade für die Kinder und Jugendlichen ist Musik so wichtig – um sich selbst zu entwickeln, an Kultur teilzuhaben.“ (Micah Brashear)

Doch trotz allem, so Brashear, sei kulturelle Bildung auch hier an der Schule „keine Selbstverständlichkeit“. Immer wieder müsse um Freistellungen für Proben, Musikfahrten und Vorbereitungen der Auftritte gerungen werden. „Musik hat einfach nicht den Stellenwert im Kollegium wie vielleicht an Gymnasien“, sagt der Lehrer. Andere Fächer gelten als wichtiger. Bringen Schülerinnen und Schüler da keine guten Leistungen, heißt es: Was hilft ihnen da Musik, fürs Leben zählt anderes. Brashear: „Aber gerade für die Kinder und Jugendlichen ist Musik so wichtig – um sich selbst zu entwickeln, an Kultur teilzuhaben.“

Mit Kunst lasse sich so viel verbinden, sagt Kunstlehrerin Claudia Güttner: Zum Beispiel die Frage, wie die Erfindung der Fotografie die Malerei Moderne verändert habe. (Foto: Rolf Schulten)

„Man kann mit Kunst so gut Gefühle ohne Worte ausdrücken …“

Die Fenster im Kunstraum sind offen, der Spätsommer-wind treibt in den Raum. Pinsel stehen in Gläsern bereit, die Zehntklässler schnappen sich Acryl und Papier, mischen die Farben auf ihren Holzpaletten. Gerade haben sie ein großes Projekt abgeschlossen, kurz vor den Herbstferien gibt es jetzt eine Fingerübung: Bild-ausschnitte von Malern der klassischen Moderne weitermalen. Layla tupft die Seerosen von Claude Monet. „Man kann mit Kunst so gut Gefühle ohne Worte ausdrücken …“ – „… und hat Zeit, mit anderen über vieles zu reden, das einen beschäftigt“, ergänzt ihre Tischnachbarin. -Claudia Güttner, Kunstlehrerin und Leiterin der Jugendkunstschule Atrium, nickt. 

Mit Kunst lasse sich so viel verbinden: zum Beispiel die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem technologischen Wandel („Wie hat die Erfindung der Fotografie die Malerei der Moderne verändert?“) oder die Frage, wie Farben auf den Menschen wirken. Die Jugendlichen, so Güttner, lernten in der Malerei, sich selbst Ziele zu stecken, an Grenzen zu gehen. Die einen verzweifelten an ihrem hohen Anspruch, die anderen verharrten in Pragmatismus. Güttner: „Da seinen Weg zu finden, ist manchmal wichtiger als viele Fächer in der Schule.“