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Ukraine-Krieg

Hungerlöhne unter dem Deckmantel des Kriegsrechts

In der Ukraine lassen Mode-Anbieter von Adidas bis Zalando produzieren. Ein neues Arbeitsgesetz macht es den Näherinnen noch schwerer, sich gegen Ausbeutung zu wehren, kritisiert Bettina Musiolek von der „Kampagne für Saubere Kleidung“.

In der Ukraine werden Näherinnen durch ein neues Arbeitsgesetz noch stärker ausgebeutet als bisher (Foto: Yevgenia Belorusets)
  • E&W: Frau Musiolek, dass die Ukraine Nähstube für unsere Mode ist, wissen viele Verbraucherinnen und Verbraucher nicht. Warum nicht?

Bettina Musiolek: Weil Ost- und Südosteuropa für die meisten ein weißer Fleck ist. Die wenigsten wissen, dass fast alle bekannten westeuropäischen Modekonzerne und Marken auch in der Ukraine fertigen lassen, weil es dort sehr billig ist – nach unseren Recherchen waren das zuletzt beispielsweise Hugo Boss, Adidas, Esprit, Aldi, Zalando, C&A, Zara, P&C, aber auch Vaude oder Triumph. Deutsche Unternehmen sind die mit Abstand wichtigsten Auftraggeber: an sie gingen 38 Prozent aller in der Ukraine produzierten Textilien und landeten so auch in deutschen Läden und Online-Shops. 

  • E&W: Auch heute noch, im Krieg?

Musiolek: Davon gehen wir aus. Die Fabriken arbeiten noch immer, sie stehen vor allem im Westen des Landes, etwa in der Nähe der Grenzen zur Slowakei und Ungarn. Dort gab es noch nicht so viele Kampfhandlungen.

  • E&W: Beim Thema Ausbeutung in Textilfabriken denken die wenigsten Deutschen an die Ukraine, sondern eher an Asien oder Afrika. Ein Fehler?

Musiolek: Ja, denn die Arbeitsbedingungen in der Ukraine unterscheiden sich kaum von denen in Bangladesch oder Indien. Selbst in China verdienen die Beschäftigten mehr! Die ukrainischen Textilarbeiterinnen werden tagtäglich ausgebeutet: ihre Löhne reichen kaum zum Leben, und zwei von drei Näherinnen arbeiten ohne Arbeitsvertrag und ohne Sozialversicherung. Im Winter ist es in den Fabriken oft eiskalt, im Sommer tropisch heiß. Hinzu kommt, dass manche Zulieferer während der Coronakrise monatelang keine Löhne gezahlt oder die Näherinnen gezwungen haben, unbezahlten Urlaub zu nehmen – um keine Abfindung zahlen zu müssen. Manche Fabrikbesitzer taten das aus der schieren Not, weil ihr Auftraggeber in Westeuropa mit dem Beginn des Lockdowns einfach den Auftrag storniert hatte.

  • E&W: Was verdient eine Näherin in der Ukraine?

Musiolek: Seit Oktober 2022 umgerechnet 154 Euro, es ist der staatliche Mindestlohn. Das ist zwar mehr als früher – 2019 waren es lediglich 126 Euro, und 2017 sogar nur 89 Euro. Aber es ist noch immer ein Lohn unterhalb der Armutsgrenze. 154 Euro reichen nicht, um alle Kosten für Wohnung und Essen zu decken. Das reichte 2019 nicht, und heute angesichts der gestiegenen Preise schon gar nicht. Ein für die Näherinnen existenzsichernder Arbeitslohn müsste fünfmal so hoch sein.

  • E&W: Ändert das neue Arbeitsgesetz, das das ukrainische Parlament nach Ausbruch des Kriegs verabschiedet hat, daran nichts?

Musiolek: Nein, im Gegenteil: das von Präsident Selenskyj unterzeichnete Gesetz hebelt Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte noch weiter aus. 2020, beim Entwurf des reformierten Arbeitsgesetzes, das stark auf Liberalisierung und eine Selbstregulierung des Markts setzte, konnten Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft noch verhindern, dass Arbeitsrechte und Tarifverhandlungen massiv aufgeweicht werden. Jetzt aber hat das ukrainische Parlament unter dem Deckmantel des Kriegsrechts und trotz monatelanger Proteste der Gewerkschaften ein Gesetz durchgeboxt, das Vereinigungsfreiheit und Arbeitnehmerrechte extrem untergräbt.

  • E&W: Inwiefern?

Musiolek: Unter dem neuen Arbeitsgesetz können Arbeitgeber Mitarbeitende einfach versetzen und sie in Betrieben mit weniger als 250 Beschäftigten – und das betrifft die meisten Textilfabriken – grundlos entlassen. Sie können Tarifverträge einseitig kündigen, Urlaubstage streichen, und sie können die Wochenarbeitszeit von 40 auf 60 Stunden erhöhen. Frauen „dürfen“ jetzt wieder an körperlich schweren Arbeitsplätzen arbeiten, das war bislang verboten.

Die meisten Näherinnen werden das alles akzeptieren, weil sie den Job brauchen. Gegen das neue Gesetz zu demonstrieren oder zu streiken, ist für sie keine Option – ihnen droht unter dem Kriegsrecht, verhaftet zu werden. Auch deswegen verstößt das Arbeitsgesetz gegen die Standards der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, wie der Internationale Gewerkschaftsbund IGB kritisiert. Da werden im Schatten des Krieges rote Linien überschritten. Zwar soll die Arbeitsrechtsreform nur während des Kriegsrechts gelten. Aber unsere ukrainischen Gewerkschaftspartner bezweifeln, dass die Punkte nach dem Krieg wieder rückgängig gemacht würden.

  • E&W: Was müssen Modeunternehmen in Deutschland machen, um Arbeiterinnen in ihren ukrainischen Zulieferfabriken besser zu schützen?

Musiolek: Sie müssen mehr Verantwortung für die Arbeiterinnen zeigen, die für sie nähen. Etwa, indem sie aufhören, bei ihren Zulieferern die Preise zu drücken. Dann können diese die Arbeiterinnen auch anständig bezahlen – dass 154 Euro im Monat nicht zum Leben reichen, weiß man auch in den Chefetagen der Modekonzerne.

Bettina Musiolek von der „Kampagne für Saubere Kleidung“ kritisiert die Hungerlöhne für Näherinnen in der Ukraine.(Foto: Yevgenia Belorusets)