Zum Inhalt springen

Hochschulabbrecher

„Holt die Eltern mit ins Boot!“

Die Abbrecherquote im Referendariat steigt. An zwei Hochschulen in Karlsruhe hat man deshalb einen Selbsttest für angehende Lehrkräfte entwickelt. Ziel ist es, frühzeitig eine realistische Einschätzung des gewählten Berufs zu vermitteln.

Viele, die den Beruf der Lehrerin oder des Lehrers ergreifen wollen, haben keine realistische Vorstellung von der Tätigkeit. (Foto: Pixabay / CC0)

Der Film dauert drei Minuten und 48 Sekunden – und beschreibt im Zeitraffer ein Problem, mit dem sich Lehrerinnen und Lehrer immer häufiger auseinandersetzen müssen: Eltern, die sich unter keinen Umständen vorstellen können, dass ihr Kind sich danebenbenommen hat. Im Filmbeispiel, das bei der Ludwig-Maximilians-Universität München abzurufen ist, erklärt eine Mutter der Schuldirektorin „Frau Binder“ äußerst eloquent, warum ihr Sohn das Auto auf dem Lehrerparkplatz gar nicht zerkratzt haben kann – obwohl er genau das getan hat.

Binder hält höflich, aber entschieden dagegen und berichtet nach dem Weggang der Mutter über ihre Erfahrungen: Noch vor 20 Jahren hätten sich Eltern in solchen Fällen zerknirscht gezeigt. „Heute fragen sie nicht mehr, ob sie bei der Mutter des Kindes, das ihr Sohn die Treppe heruntergestoßen hat, um Entschuldigung bitten können. Sie sagen: ‚Das kann nicht sein, mein Kind macht so etwas nicht.‘“ Umso wichtiger sei es, dass die Lehrkräfte einen Spagat hinbekämen, einerseits den Eltern zu vermitteln, dass Fehler menschlich sind und sich Kinder zu Hause anders verhalten als in der Schule, und andererseits nicht abzublocken, wenn Eltern ihre Sicht der Dinge einbringen. Es bestehe ansonsten die Gefahr, betriebsblind zu werden und aus dem Lehrerzimmer eine Wagenburg zu machen. „Ich versuche den jungen Lehrkräften mitzugeben: ‚Holt die Eltern mit ins Boot!‘“

Selbstreflexion wichtig

Das Filmbeispiel, eines von 16 Videos mit Szenen aus dem Schulalltag, dient auch einem Programm als Anschauungs-material, das die Pädagogische Hochschule Karlsruhe (PH) und der Pädagogik-Studiengang des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) ins Leben gerufen haben. Der etwas sperrige Titel: „Karlsruhe individual Aptitude Check for Teachers“ (KAiAC-T). Ziel sei es, den Studierenden möglichst früh im Grundstudium zu einer realistischen Selbsteinschätzung zu verhelfen. Als „Eignungsfeststellung im Sinne der Selbstreflexion“ lasse sich KAiAC-T am besten beschreiben, findet PH-Professorin Silke Traub. Als ein Selbsttest also, bei dem die Studierenden mit den Ergebnissen nicht alleingelassen werden, weil er ein Beratungskonzept umfasst, mit dem an den eigenen Schwächen gearbeitet werden kann.

Es handele sich aber nicht um ein Programm, die Abbrecherquote zu senken, so Traub. Wenn die künftig fallen sollte, sei das Folge, nicht Zweck der früheren Selbstreflexion, die auch Tobias Wunsch für dringend notwendig hält: „Auch bei uns nimmt die Zahl der Abbrecherinnen und Abbrecher im Referendariat zu. Das gilt leider auch für die Zahl der angehenden Lehrerinnen und Lehrer, die man negativ bewerten muss“, sagt der Geschäftsführer des Zentrums für Lehrerbildung am KIT. „Wenn so etwas nach fünf Jahren Studium passiert, ist das für alle Beteiligten sehr hart.“ Man müsse sich fragen, ob die Abbrecherquote auch deshalb so hoch sei, weil nicht früher eine realistische Einschätzung des Berufsbildes vermittelt werde. „Wir haben es oft mit denen zu tun, die auf jeden Fall abbrechen, und denen, die sich nach Praxistests bestärkt fühlen, den richtigen Beruf zu ergreifen. Für die, die in der Grauzone dazwischen sind, bietet jetzt KAiAC-T eine tolle Möglichkeit, sich hilfreiche Kompetenzen anzueignen.“

„Oft ist ja die zentrale Motivation, die Fächer, die man in der Schule gerne hatte, dann auch auf Lehramt zu studieren. Vielen ist nicht bewusst, was zusätzlich zum Unterricht an Aufgaben auf sie zukommt.“ (Silke Traub)

Die meisten Studierenden, ergänzt Traub, würden das auch als Chance sehen, obwohl es für den Zyklus keinen der begehrten Credit Points gibt, die es bis zum Examen zu sammeln gilt. „Die meisten sind dankbar dafür, dass sie durch KAiAC-T Themenfelder gefunden haben, an denen sie weiterarbeiten wollen. Es ist aber natürlich zusätzliche Arbeit, und das ist nicht immer das, was Studierende wollen.“

Dabei sind die Fakten eindeutig. In Baden-Württemberg arbeiten bis zu 45 Prozent der Lehramtsstudierenden später nicht in dem Beruf. Derzeit sind 650 Lehrerstellen nicht besetzt. Kein Zufall also, dass die Initialzündung für KAiAC-T von der Politik kam. Im Ministerium war man erschrocken über die hohe Abbrecherquote und die Tatsache, dass in den kommenden Jahren vor allem im Grundschulbereich ein eklatanter Mangel an Lehrkräften herrschen wird. Das wiederum hat viele Gründe – vor allem ist hier die (in den meisten Bundesländern) gegenüber dem Sekundarbereich deutlich schlechtere Bezahlung zu nennen. Dass so viele vorzeitig aufgeben, liegt laut Traub aber auch daran, dass viele den Beruf ergreifen wollten, die noch in der eigenen, bis zu 13 Jahren gepflegten Schülerperspektive gefangen seien.

Auf Themen wie Elternabende, Pausenaufsicht oder Konferenzen seien viele Studierende schon gedanklich nicht vorbereitet. Umso wichtiger sei es, „so früh wie möglich ein realistisches Bild vom Beruf zu vermitteln. Wer sich nicht geeignet fühlt, soll abbrechen, aber dann möglichst früh, im Referendariat wäre es zu spät“, sagt Traub. Und Wunsch ergänzt: „Oft ist ja die zentrale Motivation, die Fächer, die man in der Schule gerne hatte, dann auch auf Lehramt zu studieren. Vielen ist nicht bewusst, was zusätzlich zum Unterricht an Aufgaben auf sie zukommt.“

Praxisschock überwinden

Schon jetzt sind in Baden-Württemberg bis zu fünf Praxismonate im Bachelor-Grundstudium vorgeschrieben. „Da merken viele schon, dass sie mit den jüngeren Schülern doch nicht so gut umgehen können wie gedacht“, sagt Traub. Den Praxisschock habe dieser erste Switch von der Schüler- in die Lehrerperspektive schon etwas gelindert, aber noch sei Luft nach oben – eine Lücke, in die KAiAC-T mit seinen drei Stufen stößt: Dem „self assessment“ mit den Videosequenzen, der Workshop-Phase, in der geübt wird, wie Elterngespräche zu führen sind oder wie motivierend in den Unterricht eingeführt werden kann. „Gerade an den Workshops haben wir im September und Oktober noch mal mit Hochdruck gearbeitet“, sagt Traub.

Enorm wichtig seien die abschließenden Feedback-Gespräche, individuell oder zu fünft, die am Ende des Bachelorstudiums stattfinden. Zudem sind als verpflichtende Bausteine weitere Beratungsgespräche und der Austausch in kleinen Studierendengruppen vorgesehen. „Beratung, Begleitung und Eignungsfeststellung, das sind die drei Themen, die wir versuchen anzugehen“, sagt Wunsch, der am KIT trotz Corona bereits in Phase zwei ist – an der PH fand die sowieso als Online-Tool konzipierte erste Phase statt. „Ich bin überzeugt, dass es in persönlichen Gesprächen gelingt, manchen zögernden Studierenden auf die richtige Schiene zu bringen.“