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Folgen des Ukraine-Krieges

„Hier bist du sicher“

Mehr als 100.000 aus der Ukraine geflüchtete Schülerinnen und Schüler besuchen deutsche Schulen (Stand Mitte Mai). Viele der Heranwachsenden sind traumatisiert. Was sollten Lehr- und andere Fachkräfte über Traumata wissen?

Traumatisierte Kinder brauchen gute Beziehungen; sichere, verlässliche, schützende Bezugspersonen. (Foto: Pixabay / CC0)

Die dramatischen Erlebnisse von Krieg und Flucht belasten Kinder und Jugendliche in einem enorm hohen Maße. Welches Hintergrundwissen sollen Lehr- und andere Fachkräfte haben, wenn Kinder plötzlich wie versteinert dasitzen, sich verkriechen oder aus dem Klassenraum stürmen, weil ein Flugzeug naht, eine Tür knallt oder ein Streichholz angezündet wird?

In der Praxis der Traumatherapeutin Brigitte Bosse hängt ein Plakat mit der Aussage: „Man sieht nur, was man weiß.“ Der Satz ist für sich genommen bereits Aussage genug. Nur dann, wenn Fachkräfte wissen, was ein Trauma ist, können sie zum Beispiel angemessen auf einen „Flashback“ eines Kindes (eine Rückblende, ein Wiedererleben) reagieren. So weit, so rational verständlich. Doch während beim Betrachten besagten Plakates das Auge noch auf dem Mittelpunkt des Bildes verweilt, tippt Bosse mit dem Zeigefinger auf eine Art Nebelbank am unteren Ende des Bildes.

Erst dann, wenn man den Kopf etwas neigt und noch genauer hinsieht, erkennt man schemenhaft eine Herde Wasserbüffel. Die Verblüffung der meisten ihrer Besucherinnen und Besucher kommentiert Bosse trocken: „Man sollte also zumindest eine Idee davon haben, was ein Trauma ist. Wenn man gar nicht weiß, was man sehen soll, sieht man auch nichts – keine Wasserbüffel und eben auch kein Trauma.“

Gute Beziehungen wichtig

Was also ist ein Trauma? Für Lehrkräfte, die in der Regel keine Mediziner oder Therapeuten sind, zieht die Trauma-Expertin eine Erklärung heran, die sie „Brauchbarkeitsdefinition“ nennt: „Ein seelisches Trauma ist grundsätzlich ein traumatischer Augenblick, der die persönlichen Verarbeitungsmöglichkeiten sprengt. Wenn in einer Klasse aus dem Krieg geflüchtete Kinder sitzen, sollte man davon ausgehen, dass sie auch traumatische Erlebnisse hatten.“

Diese können sich als posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) zeigen, dazu zählen bei Kindern emotionale Taubheit, Übererregung und „Flashbacks“. Wenn Fachkräfte dafür sensibilisiert sind, hilft dies schon viel. Sie tragen durch Ihre Aufmerksamkeit dazu bei, dass Kinder Schule als geschützten Raum mit zugewandten Menschen, verlässlichen Strukturen und Ritualen erleben und stabilisieren so die „Einheit aus Körperheil und Seelenheil“ (Bosse). „Traumatisierte Kinder“, führt die Therapeutin aus, „brauchen gute Beziehungen; sichere, verlässliche, schützende Bezugspersonen. Solche, die explizit sagen, bei mir passiert dir nichts. Du kannst dich auf mich verlassen. Hier bist du sicher.“

Wie ein Blitzeinschlag

Warum verlässliche Strukturen Heilung fördern, wird verständlich, wenn die Therapeutin erläutert, was ein traumatischer Augenblick anrichtet: Er schlägt wie ein Blitz in den bis dahin geordneten Alltag ein. Das Gehirn wird mit Stresshormonen überflutet; die normale Verarbeitung von Sinneseindrücken wird gestört. Die Konsequenz: Das Gehirn kann das Erlebte nicht einsortieren, zuordnen. Der schreckliche Augenblick beginnt im impliziten Gedächtnis ein Eigenleben zu führen.

Die Erinnerung kann von jetzt auf gleich – ausgelöst durch einen Trigger – nach dem traumatisierten Menschen greifen. Mit ungeminderter Wucht kommen dann Panik und Ohnmacht des Augenblicks zurück. Deshalb gilt es als großer Erfolg, wenn es Kindern mithilfe einer Therapie gelingt, das Trauma als etwas, das ihnen passiert ist, in ihr Leben zu integrieren.