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Heinrich-Wolgast-Preis der AJuM in der GEW

„Sturm“ von Christoph Scheuring ausgezeichnet

Christoph Scheuring ist für seinen Jugendroman „Sturm“ mit dem Heinrich-Wolgast-Preis geehrt worden. Er stellte laut Jury die Verbindung der Arbeitswelt mit den Themen Nachhaltigkeit, Ökologie der Meere, Mensch und Natur überzeugend dar.

Der Heinrich-Wolgast-Preis wurde 1986 gestiftet, um die Darstellung der Arbeitswelt in der Kinder- und Jugendliteratur zu fördern.

Die 18-jährige Nora erlebt in ihrem Elternhaus keine unbeschwerte Jugend und steigert sich immer häufiger in verschiedene Ängste hinein. Kraft schöpft sie aus ihrer Liebe zu Tieren. Gegenüber ihren Mitmenschen wird Nora allerdings immer hemmungsloser. Als sie mit einer Blockadeaktion gegen die unzumutbaren Zustände auf dem Schlachthof protestiert, wird sie zu 300 Stunden Sozialarbeit bei dem Meeresschutzverein Ocean Watch verurteilt.

In diesem Rahmen wird Nora von der Umweltaktivistin Sarah als Observer auf dem Fischtrawler einer deutschstämmigen Familie an der kanadischen Küste eingesetzt. Diese sind von der Kontrolle ihrer Fischfangquote wenig begeistert. Vor allem der junge und introvertiert Kapitän Johan Meinart lässt Nora deutlich seine Abneigung spüren. Aber bereits bei der ersten Ausfahrt geraten sie in einen gewaltigen Sturm, der sie in Todesgefahr und zugleich einander näherbringt.

Mehrdeutigkeit des Titels

Die Mehrdeutigkeit des Titels ist dabei Programm: Das Unwetter auf hoher See versinnbildlicht auch die wachsende Beziehung zwischen Nora und Johan. Aus der Perspektive von Nora erzählt Scheuring, wie die beiden Protagonisten zunächst mit hart klingenden Wortgefechten ihre verschiedenen Standpunkte rund um die modernen Fischereimethoden diskutieren. Die gemeinsame Erfahrung auf dem Meer schweißt sie allerdings emotional immer stärker zusammen. Parallel zu dieser Entwicklung werden Klima- und Tierschutzaspekte strukturleitend eingearbeitet.

Anhand des durchdachten Plots inszeniert Scheuring nicht nur die Dramatik eines Sturms auf hoher See, sondern liefert auch authentische Einblicke in die Gefühlswelt der Protagonisten, die besonders in der ambivalenten Liebe von Nora sowohl zu Johan als auch zu der lebensfrohen Umweltschützerin Sarah deutlich werden.

Die in dem Roman vorgenommene Verbindung der Arbeitswelt mit den Themen Nachhaltigkeit, Ökologie der Meere, Mensch und Natur ist überzeugend dargestellt, ist es doch aufgrund des Klimawandels wichtiger denn je, beide Welten zusammen zu denken.

Christoph Scheuring: Sturm, Magellan Verlag: Bamberg, 2020, ISBN: 978-3-7348-5028-8, 304 Seiten, Jugendroman, ab 14 Jahre

Christoph Scheuring gelingt in seinem Jugendroman Sturm eine überaus überzeugende literarästhetische Verknüpfung von Arbeitswelten mit Themen der Nachhaltigkeit, der Meeresökologie sowie der weitgehend  verlorengegangenen Harmonie zwischen Mensch und Natur. Mit schonungsloser Offenheit erzählt er von den Abläufen in einem konventionellen Schlachthof und in der Hochseefischerei. Damit fordert er die LeserInnen eindringlich dazu auf, den Klimawandel radikal und ganzheitlich zu denken.

Die 17jährige Nora, Heldin und Ich-Erzählerin des Romans, schützt sich vor den Zumutungen des Aufwachsens in ihrer vom prügelnden und trinkenden Vater dominierten Familie und der ihr aufgezwungenen Außenseiterrolle in der Schule durch eine radikale Liebe zu den Tieren. Stark, mutig und wortgewandt setzt sie sich, wie es besonders für die Jugendjahre typisch ist, für den Tierschutz ein. Ihren Mitmenschen gegenüber ist sie oft abweisend und irritiert viele durch ihre direkte und schlagfertige Art.

Ihr Vater bewegt sich mit seiner kleinen Spedition immer am Rande des Ruins und versucht seine Dämonen mit Alkohol zu bekämpfen, was dazu führt, dass er regelmäßig Noras Mutter rücksichtslos prügelt. Nora versucht in solchen Situationen unsichtbar zu sein. Eines Tages aber eskaliert die Situation und Nora, des Vaters „Goldstück“, schlägt zurück. Ihre Mutter verlässt die Familie. Nora lässt das kalt, denn niemals hat ihre Mutter sie gegen den Vater oder irgendjemand verteidigt. Immer war sie nur darum besorgt, das Bild einer heilen Familie in der Öffentlichkeit zu bewahren. Jetzt aber bestimmt Nora selbst: „Nachgeben, nur weil der andere dümmer oder stärker oder ein Mann ist, funktioniert einfach nicht. […] Und schon mal gar nicht funktioniert es gegenüber Verbrechern oder Politikern oder besoffenen Typen. Auch unsichtbar oder leise sein führt nirgends zum Ziel [...]. Ich wollte nicht mehr unsichtbar sein.

Das hatte ich mir vorgenommen an diesen Tagen.“ (Scheuring 2020, S. 49) Als ihr Bericht über die unzumutbaren Zustände in einem ortsansässigen Schlachthof nicht in der Schülerzeitung veröffentlicht wird, entschließt sich Nora zu handeln: Mit einer Blockadeaktion will sie die Öffentlichkeit auf die tierquälerische Massentierhaltung und die damit verbundene profitorientierte Fleischproduktion aufmerksam machen und wachrütteln. Obwohl das Gericht die positive Absicht hinter Noras Handlungen erkennt, wird sie zu Sozialstunden verurteilt. Durch die Vermittlung einer Meeresschutzinitiative kann sie ihre Strafe als Observer auf dem Fischtrawler einer deutschstämmigen Familie an der kanadischen Ostküste ableisten.

Zuvor wird sie noch von der Aktivistin Sarah „eingenordet“, die Fischer allesamt „Mörder“ nennt und zu Feinden erklärt: Keinesfalls nett sein, keinesfalls die Männer bedienen, sondern sie beaufsichtigen und niemals Angst zeigen: „Wer Angst hat, rüttelt nicht an der Macht. Angstordnet sich unter. Emanzipation heißt als Allererstes, dass wir unsere Ängste überwinden. […] Frei sind wir nur, wenn wir unser Leben nicht bestimmen lassen durch unsere Ängste.“ (ebd. S.143)

In Kanada will keiner der drei Generationen umfassenden Crew die Observer-Kontrolle und besonders der junge Kapitän Johan Meinart lässt sie seine Ablehnung schon bei ihrer Ankunft sehr deutlich spüren. Dann aber geraten sie schon bei ihrer ersten Ausfahrt in einen gewaltigen Sturm, der den Wendepunkt markiert. In dem nun folgenden Überlebenskampf prallen die unterschiedlichen Sichtweisen auf Umwelt, Nachhaltigkeit, Klimaschutz und die Fischerei aufeinander.

Scheuring gibt in einer klug gewählten Erzählweise Johan und vor allem seinem fast 100jährigen Großvater eine nachhallende Stimme. Und so bekommen nicht nur Nora, sondern auch die Leserschaft einen tiefen Einblick in die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Fischerei. Sie ist durch die rücksichtslose Ausbeutung der Natur und der Meere ebenso gekennzeichnet, wie durch die Verschmutzung der Meere durch Plastikmüll und Quoten- und
Lizenzverordnungen, die die Fischer in die Illegalität treiben oder ruinieren. Aus Noras Perspektive schildert der Autor, wie die Männer einen riesigen Schwertfisch in einem stundenlangen Prozedere aus dem Meer holen und unter Aufbietung aller Kraft töten. Geschockt, aber zugleich fragend und reflektierend diskutieren Johan und Nora anschließend lange noch über die Natur, den Tod und das Leben und ob der Mensch das Recht hat (als Teil
der Natur) Tiere zu töten.

Als der Großvater mitten im tosenden Sturm an Deck geht und nicht zurückkommt, fühlt sich Nora wie ein „hilfloser Spielball von etwas, das viel stärker ist als ich selbst, und das Einzige, was ich tun kann, ist vertrauen: dass die Zeit zum Sterben noch nicht gekommen ist. […] Sogar die Zeit scheint nicht mehr zu existieren in dieser Hölle.“ (ebd. S. 204) Gerade noch können sich Johan und Nora auf ein kleines Ruderboot retten, bevor das Schiff versinkt. In dieser lebensbedrohlichen Situation auf hoher See – meilenweit von einer Küste entfernt, mit wenigen Vorräten und dem Sturm ausgeliefert – sind sie aufeinander angewiesen und wissen, dass sie das nur gemeinsam überleben können: Durch Johans nautisches und seemännisches Wissen (vom Autor fundiert recherchiert und präzise beschrieben) und Noras zupackender tatkräftiger Art können sie es schaffen. So entsteht eine intensive Vertrautheit zwischen den beiden, die durch Scheurings Erzählkunst niemals ins Melodramatische oder gar Kitschige abdriftet.

Die Mehrdeutigkeit des Titels ist dabei Programm: Das Unwetter auf hoher See versinnbildlicht die wachsende Beziehung zwischen Nora und Johan. Die Unberechenbarkeit des Meeres symbolisiert die sich so plötzlich verändernden Rahmenbedingungen in Noras Leben. Während ihr persönliches Koordinatensystem sie vor einer Woche noch verlässlich in den Kategorien „Gut und Böse“ gelenkt hat, gibt es auf einmal keine einfachen Antworten mehr auf existenzielle Fragen des Lebens.Aus Noras Perspektive erzählt Scheuring, wie sich die Beziehung zwischen den beiden sich entwickelt und aus den schroffen Wortgefechten tastende Annäherungen werden bis hin zu einer Vertrautheit, die an die Zeile „He shares the secrets of my soul“ aus dem berühmten Song „Bobby McGhee“ von Janis Joplin erinnert.

Mit einer geschickt inszenierten, teilweise atemberaubend spannenden, Handlungsdramaturgie entwirft Scheuring eine Entwicklungsgeschichte, die zugleich die Bedeutsamkeit von Klima- und Tierschutzaspekten facettenreich aufzeigt. In den kontroversen Gesprächen zwischen Nora und Johan wird nicht nur deutlich, wie es um die moderne Fischerei bestellt ist, sondern wie schwierig eine eigene differenzierte Standortbestimmung ist. Dass dafür Beziehungen jenseits der Heteronormativität eine Rolle spielen, spiegelt sich auch in den sensibel  dargestellten Gefühlen zwischen Nora und der feministischen Umweltschützerin Sarah wider.

Am Ende dieser aufregenden Heldinnenreise führt der Autor seine Leserinnen und Leser mit einer Pointe zurück an den Anfang der Geschichte oder in ihr eigenes echtes Leben, in dem es wie im Roman eben nicht nur Schwarz und Weiß oder Gut und Böse gibt. So knüpft der Roman nicht nur an aktuelle Diskurse an, sondern bietet eine Fülle von Impulsen und Fragestellungen für wichtige und bedeutsame Anschlussdiskussionen zu den verhandelten Themen an.

Mitglieder der Jury

  • Simone Depner; Lehrerin/Literaturdidaktikerin
  • Inger Lison; Literaturwissenschaftlerin/Literaturdidaktikerin
  • Angelika Schmitt-Rößer; Lehrerin/Fortbildnerin

Darstellung der Arbeitswelt fördern

Der 1957 geborene Christoph Scheuring arbeitet als Journalist für die Magazine „Der Spiegel“ und „Stern“ sowie für die Wochenzeitung „Die Zeit“. Außerdem schreibt er Jugendromane. 

Der Heinrich-Wolgast-Preis wurde 1986 vom Bildungs- und Förderungswerk (BFW) der Gewerkschaft Erziehung (GEW) im DGB e.V. gestiftet, um die Darstellung der Arbeitswelt in der Kinder- und Jugendliteratur zu fördern. Der im Gedenken an den Reformpädagogen Heinrich Wolgast gestiftete Literaturpreis wird alle zwei Jahre verliehen und ist mit 2.000 Euro dotiert.

Die Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien (AJuM) der GEW engagiert sich für Leseförderung und Medienbildung in Kindergarten, Schule, Hort, Hochschule und anderen pädagogischen Einrichtungen. Mehr als 500 ehrenamtlich Engagierte aus allen Bundesländern beurteilen und bewerten Kinder- und Jugendliteratur und -medien für die kostenlose und unabhängige Online-Rezensionsdatenbank.