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Integration

Hausbesuche und Lobanrufe

Kinder und Jugendliche aus zugewanderten Familien haben weiter nicht die gleichen Chancen wie Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. Erfolge erzielen Schulen mit Sprachförderkonzept, die im Stadtteil verwurzelt sind und Eltern einbeziehen.

DaZ-Unterricht, 6. Klasse der Gretel Bergmann Schule im Hamburger Stadtteil Allermöhe. Foto: Babette Brandenburg

Hussein (Name geändert) hebt das eiförmige Blatt empor und betrachtet es eingehend. Dann fährt er mit dem Zeigefinger über den Bildschirm seines Tablets und mustert die Abbildungen auf der Webseite zur Blattbestimmung. „Herr Cüce, ist das eine Grauerle?“, wendet er sich an den Klassenlehrer. „Bestimm doch zuerst die Gattung“, antwortet Ceyhan Cüce und deutet auf das Whiteboard. Dort hat er die für das Projekt „Mein Herbarium“ wichtigen Begriffe wie Gattung, Stängel oder Blattader mit den zugehörigen Artikeln notiert.

„Sprachförderung läuft auch im Fachunterricht immer mit“, erläutert Cüce. Viele Kinder führen Vokabelhefte, in die sie neue Fachbegriffe und Verben eintragen. In der 6. Klasse der Gretel Bergmann Schule im Hamburger Stadtteil Neuallermöhe haben drei von vier Schülerinnen und Schülern einen Migrationshintergrund. Ihre Eltern sind Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion oder Zuwanderer aus der Türkei und Polen. Einige Kinder sind selbst im Ausland geboren, haben aber schon eine Hamburger Grundschule besucht oder sind wie Hussein aus einem Krisengebiet des Nahen Ostens geflüchtet und waren zuvor in einer Vorbereitungsklasse. „Die individuellen Lese- und Schreibkompetenzen unterscheiden sich erheblich“, beschreibt der Pädagoge die Heterogenität seiner Klasse.

Für die meisten Schulen in westdeutschen und Berliner Ballungszentren gehört die Integration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationsgeschichte längst zum Alltag. Dennoch erreichen diese noch immer nicht dieselben Bildungserfolge wie Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. Zu diesem Schluss kommt der Nationale Bildungsbericht, der alle zwei Jahre auf Grundlage amtlicher Statistiken und wissenschaftlicher Studien erstellt wird. Weiterhin bestehe ein enger Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und Herkunft, bei der meist sozioökonomische und migrationsbezogene Problemlagen zusammenfallen. Trotz aller Anstrengungen sei es bisher nicht gelungen, Bildungsungleichheiten entscheidend zu verringern. Im Gegen-teil: Der Bericht warnt, dass die Kluft künftig größer wird.

„Wir betrachten jedes Kind und schauen, was es kann und was es braucht.“ (Karlheinz Kruse)

Dass die Heterogenität in den Klassenzimmern durch Inklusion und Migration weiter zunimmt, beobachten auch die Lehrkräfte der Gretel Bergmann Schule. Sie setzen deshalb auf Stärkung der Resilienz ihrer mehr als 1.000 Schülerinnen und Schüler. „Wir betrachten jedes Kind und schauen, was es kann und was es braucht“, erklärt Schulleiter Karlheinz Kruse. Ausgehend von höchst unterschiedlichen Lernvoraussetzungen werde es von multiprofessionellen Teams „nach seinen Möglichkeiten begleitet und gefördert“. Im Zentrum steht die Sprachförderung als fester Teil des Regelunterrichts. Regelmäßig werden die Schreib- und Lesekompetenzen der Kinder getestet; entsprechend ihres Bedarfs werden sie im Deutschen gefördert – möglichst von Deutschlehrkräften ihrer Klasse.

Schülerinnen und Schüler der Vorbereitungsklassen erhalten in den zwei anschließenden Schuljahren zusätzlich Unterricht in Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Dieser findet als Wahlpflichtkurs unter denselben Bedin-gungen statt wie die zweiten Fremdsprachen Russisch, Spanisch oder Französisch. Wem das nicht reicht, der kann Förderkurse im Rahmen des Ganztags belegen. Die freiwilligen Angebote werden laut Sprachlernberaterin Angelika Förster „gern angenommen“.

Ohnehin biete der Ganztag mit seinem breiten Kursangebot „neben einem deutschsprachigen Umfeld gute Möglichkeiten, sich in die Schulgemeinschaft zu integrieren“, so Schulleiter Kruse. Hier sei Raum, sich mit „Dingen zu beschäftigen, die sie können und mögen – von Kochen über Musik bis Mannschaftssport“. Die Jugendlichen schlössen Freundschaften und „empfinden sich schnell als Teil der Schule“. Identifikation und soziales Wohlbefinden sind für Kruse eine wichtige Voraussetzung, um Lernfortschritte zu erzielen.

In anderen Schulen wird dies nicht so hoch bewertet: So kam die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in einer Sonderauswertung der PISA-Ergebnisse – im Oktober veröffentlicht (s. E&W 11/2018) – zu dem Ergebnis, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund häufiger das Gefühl haben, in der Schule nicht dazuzugehören und über schulbezogene Ängste klagen. Als Sohn türkischer Arbeitsmigranten weiß Lehrer Cüce aus eigener Erfahrung, welche Erwartungen auf den Kindern lasten. Häufig seien diese „hoffnungslos überzogen“.

„Letztlich läuft hier alles über Beziehungsarbeit.“ (Ole Waldmann)

An der Gretel Bergmann Schule arbeiten 16 Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte. Diese, erzählt Cüce, hätten „durch Sprache, Aussehen, ähnliche Sozialisation und Erfahrungen einen einfacheren Zugang zu den Jugendlichen und ihren Eltern“. Er selbst hat zu Beginn der 5. Klasse seine Schülerinnen und Schüler zu Hause besucht und mit den Eltern am Wohnzimmertisch gesprochen. So habe sich ein guter Kontakt aufbauen können. Sein Kollege Ole Waldmann hat mit einer Arbeitsgruppe im Zuge der Schulentwicklung ein Konzept für „Lobanrufe“ erarbeitet, die er selbst schon lange praktiziert. „Ich rufe nicht an, um über eine schlechte Note zu sprechen – sondern über ein erfreuliches Ereignis“, berichtet der Pädagoge.

Die Eltern fassten Vertrauen; so sei es einfacher, Informationen über das Kind auszutauschen. Auch auf Schulebene arbeite man an einem intensiveren Kontakt zu den Eltern, bestätigt der aktive Gewerkschafter. Um sprachliche Hürden abzubauen, werden seit vielen Jahren Dolmetscher zu Lern-entwicklungs- und Elterngesprächen hinzugezogen. Kürzlich fand zum ersten Mal ein Teil des Elternabends jahrgangsübergreifend in sechs Sprachen statt.

„Letztlich läuft hier alles über Beziehungsarbeit“, stellt Waldmann fest. Jedoch würden „Hausbesuche, Lobanrufe oder telefonische Erreichbarkeit kaum im Arbeitszeitmodell für Lehrkräfte abgebildet und deshalb meist zusätzlich geleistet“, kritisiert er. Schulleiter Kruse bereitet eine weitere Entwicklung Kopfzerbrechen. Er beobachtet, dass die Zahl der Kinder aus belasteten Familien steige und die Ganztagsschule „zunehmend die Probleme und Erziehungsaufgaben im Stadtteil“ übernehme. Deshalb hat er alle Institutionen und Organisationen zu einer Bildungskonferenz eingeladen, um über ein Stützsystem für die Schule zu beraten – unabhängig von den langjährigen engen Kooperationen mit Sportvereinen und Jugendeinrichtungen. Im Gegenzug öffne sich die Schule in den Stadtteil und werde „ein Ort der Gemeinwesenarbeit“, so Kruse.

„Viele Schulen fühlen sich angesichts der Mammutaufgabe Zuwanderung von der Politik allein gelassen.“ (Ilka Hoffmann)

Die Gretel Bergmann Schule zeigt, dass eine engagierte Schulgemeinschaft Heranwachsenden aus zugewanderten Familien zu Bildungserfolgen verhelfen kann. Fast jeder Zweite schließt die Schule mit dem Abitur ab – obwohl keiner eine Gymnasialempfehlung hatte. Doch Schulen können die Integration nicht allein stemmen – sie sind auf Unterstützung durch die Politik angewiesen. „Wir brauchen deutlich kleinere Lerngruppen und mehr Zeit für zusätzliche, kommunikative Aufgaben“, fordert GEW-Schulexpertin Ilka Hoffmann. Als ebenso wichtig bewertet sie den Ausbau eines internen und externen Hilfesystems durch Schulpsychologen, Jugendhilfe und andere Fach- und Beratungsstellen: „Viele Schulen fühlen sich angesichts der Mammutaufgabe Zuwanderung von der Politik allein gelassen.“