GEW besorgt nach neuen Studien
„Handlungsbedarf an Schulen und Kitas ist riesig“
Zwei wissenschaftliche Studien zeigen: Der Bildungserfolg hängt weiter von der Herkunft ab. Und: Der Personalmangel im Bildungsbereich nimmt dramatische Formen an.
Schallende Ohrfeige für die Kultusminister und ihre verfehlte Schulpolitik. Deutlich weniger Kinder erreichen zum Ende der vierten Jahrgangsstufe die vorgegebenen Mindeststandards in Deutsch und Mathematik. Die soziale Kluft in den Schulen wird größer statt kleiner. Immer stärker entscheidet die soziale Herkunft über den Bildungserfolg eines jungen Menschen. Und: Der Personalmangel im Bildungsbereich nimmt dramatische Formen an.
Schieflage nicht erst durch Corona ausgelöst
Es waren gleich zwei wissenschaftliche Studien, die diese Hiobsbotschaften überbrachten. Das ländereigene Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) legte erste Trendergebnisse seiner jüngsten Leistungserhebungen in den Grundschulen aus dem Jahr 2021 vor. Der neue nationale Bildungsbericht bietet einen Gesamtüberblick über die Entwicklung der Bildung in Zeiten der Pandemie. Der Kernbefund: Der gesellschaftliche Bedarf an Qualifizierung steigt. Doch vor allem im Kita- und im Schulbereich fehlt dafür qualifiziertes Personal.
„Wir haben in Deutschland einen Sockel äußerst kompetenzschwacher Schülerinnen und Schüler.“ (Kai Maaz)
IQB-Leiterin Petra Stanat wie auch der Leiter des Autorenkollektivs für den Bildungsbericht, Kai Maaz, führen die aktuellen Probleme nicht allein auf die Pandemie zurück, auch wenn die Corona-Krise und die damit verbundenen Schulschließungen zum Teil für weitere Verschärfung gesorgt hätten. In einem Interview mit dem Wiarda-Bildungsblog wurde Maaz deutlich: „Wir haben in Deutschland einen Sockel äußerst kompetenzschwacher Schülerinnen und Schüler, und das seit langem. Anfang der 2000er Jahre, nach der ersten Pisa-Studie, haben wir sie als Risikogruppe bezeichnet. Insofern warne ich davor, jetzt so zu tun, als handele es sich um eine neue, erst durch Corona ausgelöste Schieflage.“
Jeder fünfte Viertklässler verfehlt Mindeststandards
Nach den IQB-Zahlen erreichte 2021 etwa jeder fünfte Viertklässler in Deutsch und Mathematik nicht die Mindesstandards, auf die sich die Kultusminister bundesweit verständigt haben. Bei der Erhebung zuvor im Jahr 2016 waren dies beim Lesen 12,5 Prozent, in Mathematik 15,4 Prozent. Stanat sprach von „signifikant negativen Trends“. Deutlich werde die Verstetigung der Koppelung von sozialem Hintergrund und schulischer Leistung. Und Maaz fragt: „Was passiert mit den Jugendlichen, die die Mindeststandards nicht schaffen? Im ungünstigsten Fall nichts, es wird einfach weitergemacht wie zuvor.“
Und die Kultusminister? Sie verweisen auf die Schulschließungen während der Pandemie, die ihnen schließlich gegen ihren Willen von den Ministerpräsidenten aufgedrängt worden seien. Zugleich hoffen sie auf weitere 500 Millionen Euro vom Bund – im Rahmen der Corona-Hilfen. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) sprach von einer „Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern“. Schließlich habe der Bund in der Pandemie neben anderen sogar der Gastronomie geholfen. Der Bund dürfe sich jetzt bei den Schulen nicht wegducken.
„Das sogenannte Aufholprogramm nach Corona von Bund und Ländern kommt nicht da an, wo es am meisten benötigt wird.“ (Anja Bensinger-Stolze)
Die Wirksamkeit der bisher vom Bund mitfinanzierten Corona-Hilfen an den Schulen ist allerdings umstritten. Das Geld wird von den Ländern höchst unterschiedlich eingesetzt. GEW-Vorstandsmitglied Anja Bensinger-Stolze kritisierte: „Das sogenannte Aufholprogramm nach Corona von Bund und Ländern kommt nicht da an, wo es am meisten benötigt wird, nämlich bei den benachteiligten Kindern und Jugendlichen.“ Vor einer Neuauflage mit geplanten weiteren 500 Millionen müsse ein anderes Verteilsystem geschaffen werden, das dafür sorge, „dass die Gelder dorthin fließen, wo sie direkt wirken.“
Die Mittel dürften nicht mit der Gießkanne verteilt werden. Die GEW-Schulexpertin verwies auf das im Koalitionsvertrag der Bundesregierung vereinbarte START-Chancen-Programm für 4000 Schulen in schwieriger Lage. Zudem habe die Koalition zugesagt, für 4000 weitere Schulen die Schulsozialarbeit zu fördern. „Das sind richtige Schritte! Sie sind aber bisher im Haushalt noch nicht mit den entsprechenden Ressourcen hinterlegt.“
Am IQB-Bildungstrend 2021 hatten 26.844 Schülerinnen und Schüler der 4. Jahrgangsstufe in 1464 Grund- und Förderschulen aus allen 16 Bundesländern teilgenommen. Die Erhebung wurde nach 2011 und 2016 jetzt zum dritten Mal durchgeführt. Ergebnisse aus den einzelnen Bundesländern sollen im Oktober veröffentlicht werden. |
Es könnten bis zu 80.000 Fachkräfte fehlen
Der zunehmende Mangel an pädagogischen Fachkräften ist ein Schwerpunkt des neunten nationalen Bildungsberichts. Zwar sei die Zahl der Beschäftigten in Kitas, allgemeinbildenden Schulen und Hochschulen sowie in Teilen der Weiterbildung seit 2010 teils merklich gestiegen, heißt es. „Doch die Beteiligung an den einzelnen Bildungsbereichen hat jedoch in einem ähnlichen Maß zugelegt, sodass sich die Betreuungsrelation im Ergebnis kaum verbessert hat.“
Prognostiziert wird ein weiter steigender Bedarf. Allein für die Frühe Bildung fehlten in Westdeutschland bis 2025 über 72.000 Fachkräfte, an den Schulen insgesamt bis 2030 gut 30.000 Lehrkräfte. Der Bildungsforscher Klaus Klemm prognostiziert allerdings mit seinen Berechnungen gar einen noch größeren Mangel und kommt auf einen Fehlbedarf von 80.000 Pädagoginnen und Pädagogen.
GEW warnt vor nationalem Notstand
Die GEW-Vorsitzende Maike Finnern sprach von einem drohenden nationalen Notstand. In vielen Schulen sei der Ausfall von Unterricht zur Regel geworden. Lehrkräfte und Schulleitungen kämpften gegen den teils dramatischen Lehrkräftemangel, Erzieherinnen gegen den Fachkräftemangel in der frühkindlichen Bildung. „Viele Beschäftigte im Bildungsbereich gehen in Teilzeitarbeit, um der persönlichen Überlastung zu entkommen. Das System befindet sich in einem Teufelskreis aus Überlastung durch Fachkräftemangel und Fachkräftemangel durch Überlastung.“ Die Länder müssten endlich die Ausbildungskapazitäten in Studium und Referendariat signifikant erhöhen. Finnern verwies darauf, dass die Abbruchquote in manchen Lehramtsstudiengängen bei fast 50 Prozent liege. Dies weise auf erhebliche Mängel in den Studiengängen hin. „Das Studium muss studierbar werden, sonst verlieren wir während der Ausbildung viel zu viele junge Menschen.“ Zudem müsse der Numerus clausus, den es noch immer für viele Lehramtsausbildungen gebe, endlich fallen. Finnern: „Der Handlungsbedarf an den Schulen, aber auch in den Kitas, ist riesig.“