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Hamburg: Inklusion birgt politischen Sprengstoff

In Hamburg hat der SPD-Senat ein Inklusionskonzept verabschiedet, das auf massive Ablehnung bei Eltern, Lehrkräften, Schulleitungen, Verbänden, Kammern, Gewerkschaften und großen Teilen der parlamentarischen Opposition stößt. Es sei ein Sparmodell, weil es eine „empfindliche Kürzung“ bestehender personeller Ressourcen bedeutet, kritisiert die GEW Hamburg.

Das Konzept sieht vor, Förderschulen für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Bedarf im Lernen sowie der sozialen und emotionalen Entwicklung (LSE-Kinder) sukzessive aufzulösen und diese in allgemeine Schulen zu inkludieren. Spezielle Sonderschulen für Kinder mit geistigen, körperlichen und Sinnesschädigungen sollen erhalten bleiben. Alle Eltern haben allerdings ein Wahlrecht. Das Inklusionskonzept sieht vor, alle Kinder, deren Eltern das wollen, in allgemeine Schulen aufzunehmen. Der Konflikt entzündete sich am mit dem neuen Modell einhergehenden Paradigmenwechsel: von einer am Bedarf der LSE-Kinder orientierten Lehrerzuweisung für allgemeine Schulen hin zu einer systemischen, die weniger Ressourcen als bisher vorsieht. Während sich die bisherige, diagnosegestützte Ressourcenverteilung danach richtet, was das einzelne Kind braucht, folgt die systemische einer ermittelten Quote aus erwarteten LSE-Kindern und einem Sozialindex. Sie soll zum Maßstab für die zusätzlichen Lehrerwochenstunden (LWS) für sonderpädagogische und allgemeinpädagogische Lehrkräfte werden.

Sowohl die Quote als auch die Anzahl der Stunden für sonderpädagogische Förderung sind umstritten. Während der Senat von acht Prozent LSE-Kindern eines Jahrgangs in Stadtteilschulen ausgeht, spricht die Lehrerkammer davon, dass dort 10,3 Prozent der Schüler in den jetzigen fünften Klassen betroffen sind. Auch die vom Senat zugewiesenen 3,5 LWS-Doppelbesetzungen entpuppten sich als Illusion. Nur 40 Prozent davon sind für Sonderpädagogen, aber 60 Prozent für Sozialpädagogen und Erzieherinnen vorgesehen. Faktisch heißt das, dass nur 1,4 sonderpädagogische LWS doppelt besetzt werden. Zum Vergleich: Die bestehenden Integrationsklassen (IK) an Grund- und Stadtteilschulen für Kinder mit speziellem Förderbedarf und die integrativen Regelklassen (IRK) an Grundschulen für alle angemeldeten Schüler, einschließlich der LSE- und Kinder mit speziellem Förderbedarf, arbeiten mit zirka zweimal so viel LWS-Doppelbesetzungen.

Arbeitsverdichtung befürchtet

Die GEW Hamburg befürchtet, dass sich mit diesem Modell die Lehrerarbeit verdichten und die Arbeitszeit der Lehrkräfte verlängern wird. Sonderpädagogische Stellen könnten abgebaut und dafür sozialpädagogische Fachkräfte als Hilfslehrer eingesetzt werden. In ihrem Reader „Baustelle Inklusion“ beschreibt die Gewerkschaft, dass in einer sechszügigen Stadtteilschule mit rund 900 Schülerinnen und Schülern im Schnitt lediglich je vier Sonderpädagogen und sozialpädagogische Fachkräfte für die Inklusion der LSE-Kinder eingeplant seien. Zeit für Teamarbeit und Kooperationen oder die aufwändige Mehrarbeit für individuellen Unterricht und differenzierte Leistungsbewertung seien im neuen Senats-Konzept nur ungenügend berücksichtigt worden. Klaus Bullan, Vorsitzender der GEW Hamburg, fordert deshalb, dass sich die Zuweisung an der „bisherigen Versorgung der I/IR-Klassen“ entlang des „tatsächlichen Bedarfs des einzelnen Kindes“ orientiert.

Indessen verweist Bildungssenator Ties Rabe (SPD) auf die Vorgängerregierung, die 2009 „alle Schultüren aufmachte“, und nicht – wie von der SPD vorgeschlagen – die „Zahl der I- und IR-Klassen verdoppelte“. Seitdem verzeichneten die Sonderschulen einen Rückgang von „rund 900 LSE-Kindern“, während die allgemeinen Schulen „statt der erwartbaren 900 über 2000 zusätzliche LSE-Kinder mehr meldeten, und zwar verteilt auf fast alle Schulen“. Dieser dramatische Anstieg zeige, dass sich „Maßstäbe verschoben“ hätten, und sei ein Indiz für „unklare Kriterien bei der Diagnose“ der LSE-Kinder. Nun müsse man zu einer „fairen Verteilung der Ressourcen“ kommen, die sich „nicht daran messe, wo zufällig früher eine bestimmte Förderstruktur eingebunden“ gewesen sei, sondern an der „Zahl der sonderpädagogisch förderbedürftigen Kinder“ festgemacht sei. Rabe betont, dass „sehr viele Schulen“ nicht die Ausstattung der I/IR-Klassen hätten und „dringend auf zusätzliche Ressourcen angewiesen“ seien. Man müsse also Ressourcen „umverteilen“, wobei Hamburg unter dem Strich mehr für inklusive Bildung bereitstelle als jedes andere Bundesland. Eine Klasse mit vier LSE-Kindern könne „gut die Hälfte des Unterrichts, eine Klasse mit vier Kindern mit speziellem Förderbedarf sogar den gesamten Unterricht doppelt besetzen“.

Fakt ist, dass der Senat durch sein Inklusionskonzept den Schulalltag verändert. Sonderpädagogin Irene Langer* berichtet: „Ich kann nicht mehr während des Unterrichts auf die Problemlage meiner Schüler pädagogisch sinnvoll eingehen. Konflikte werden an Sozialpädagogen weitergeleitet oder in der Pause bearbeitet.“ Oder Kerstin Höffner*, Mutter einer autistischen Tochter: „Jetzt fliegt ein Sonderschullehrer für drei Stunden ein und geht dann wieder an die nächste Schule. So entwickeln sich keine Beziehungen, auf die Kinder bauen können, um gut zu lernen.“

Vor der Sommerpause demonstrierten knapp 2000 Menschen unter dem Leitspruch der GEW-Hamburg: „Inklusion JA – Sparmodell NEIN“. Doch dieser deutliche Ruf nach „besserer finanzieller Ausstattung schulischer Inklusion“ blieb genauso ungehört wie im Vorfeld die Petitionen von Schulleitungen, Lehrkräften, Eltern und Schülern sowie Verbänden oder die Stellungnahmen der GEW Hamburg. Für den Herbst will sich Bullan mit anderen Organisationen beraten, wie man gemeinsam den Senat „erheblich öffentlich unter Druck setzen“ könne, um zu zeigen, dass eine „‚Politik der Schuldenbremse‘ ohne Rücksicht auf Verluste im Sozial- und Bildungsbereich mit der Bevölkerung in Hamburg nicht zu machen ist“.