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Dialog

Hallo, Hochschule!

Landauf, landab machen Hochschulen spannende Angebote für Seniorinnen und Senioren mit Lust auf akademische Bildung. Ein Rundgang.

Seniorinnen und Senioren, die nochmal ein Studium aufnehmen, gibt es zu Tausenden in der Republik. (Foto: Pixabay / CC0)

Jedes Jahr im September wird Thomas Brand unruhig. Wann ist das Vorlesungsverzeichnis endlich draußen? Dann klickt sich der ehemalige Prüfingenieur durch die Angebote an der Universität des dritten Lebensalters (U3L) in Frankfurt am Main, Wirtschaftswissenschaften interessieren ihn besonders. Inzwischen ist der 66-Jährige im 4. Semester, zwei bis sechs Stunden am Tag Uni, viermal die Woche. Mal eine Vorlesung Volkswirtschaft, mal ein Seminar über Kunst und Ökonomie, mal eine Projektgruppe zur Stadtforschung. Am Ende hat er dort einen Beitrag über die vergessenen Orte der Stadt für einen alternativen Stadtführer geschrieben. Regelmäßig treffen sich die älteren Studierenden zu Campus-Café, Debatten- oder Kneipenrunde. „Die Uni gibt mir unglaubliche Weiterentwicklungsmöglichkeiten und tolle Kontakte.“

100 Kilometer südlich sitzt Harmut Wirsching, 72, im Hörsaal der Uni Tübingen und beschäftigt sich mit den Themen, zu denen er als Leiter einer Werkrealschule vor dem Ruhestand keine Zeit hatte: Politik und Geschichte. Er ist Gasthörer – „Prüfungen brauche ich nicht mehr“ – im regulären Studienangebot, besucht etwa Vorlesungen zur Geschichte der USA. Ein-, zweimal die Woche eintauchen in die Wissenschaft, voller Freude an Erkenntnis. Neben ihm tippen Anfang 20-Jährige am Laptop. „Es ist spannend zu erleben, wie sehr sich Studieren verändert hat.“

„Und ich habe begriffen: Lebenslanges Lernen muss man sich selbst im Alter gestalten.“ (Barbara Haas)

Nicht weit von Wirsching hat die pensionierte Lehrerin und Personalrätin Barbara Haas, 74, an vier Wochenenden den Studiengang Geragogik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe abgeschlossen. Es war das Interesse an einer systematischen Auseinandersetzung mit der neuen Lebensphase, die sie zu dem Lehrangebot über Bildung im Alter brachte: Wie lernen Ältere, welche neuen Strategien helfen, was motiviert? Im Seminar eine Professorin, zehn Teilnehmende, meist viel jünger als sie, oft in Pflegeberufen. „Das Miteinander war großartig, wir haben viel voneinander gelernt“, sagt Haas. „Und ich habe begriffen: Lebenslanges Lernen muss man sich selbst im Alter gestalten.“ Der neue Background hilft Haas, ehrenamtlich Seminare für Ruheständlerinnen und Ruheständler zu geben.

Drei Beispiele, drei Wege. Seniorinnen und Senioren, die nochmal ein Studium aufnehmen, gibt es zu Tausenden in der Republik. In den 1980er-Jahren haben sich Hochschulen in der alten Bundesrepublik für ein breites Publikum geöffnet. Akademische Bildung allen zugänglich zu machen, war und ist eine Frage von Bildungsgerechtigkeit und Gleichberechtigung. Wissenschaft sollte sich in die Gesellschaft öffnen, Lernen zwischen den Generationen gefördert werden. „Zwar hat die Vereinheitlichung der europäischen Bildungsgänge im Bolognaprozess diese Öffnung zunächst wieder gebremst“, erläutert Thomas Bertram, Leiter der Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschaftliche Weiterbildung für Ältere (BAG WiWA) an der Universität Hannover. Die administrative Belastung für die neuen Studienstrukturen schien zu hoch. Um die Älteren können wir uns jetzt nicht auch noch kümmern, das hörte Bertram oft. „Ein Teil der Universitäten beschränkte den Zugang für Gasthörende wieder.“

Udo Alberts, Lehrer für Biologie, Religion und Erziehungswissenschaften in Tübingen, seit 2011 im Ruhestand.

„Seit ich nicht mehr erwerbstätig bin, war ich erst drei Jahre in der Lehrerfortbildung tätig, dann habe ich über Social Media einen chinesischen Brieffreund gefunden, ihn in Guangzhou (Kanton) besucht und danach Seminare für neuere chinesische Geschichte an der Universität Tübingen belegt. Ein Wissensbad – und voll anregender Diskussionen mit den Studierenden.

Später habe ich Gesprächskreise an der Volkshochschule (VHS) in Stuttgart ausprobiert und einen politischen Stammtisch in der Nähe. Beides war nichts für mich, zu wenig partizipativ. Warum gründest du nicht selbst einen Gesprächskreis, fragte mich irgendwann ein Freund. Super Idee. Also habe ich in der Abteilung Literatur und Gesellschaft der Volkshochschule angerufen: „Ich würde gerne einen Gesprächskreis bei ihnen anbieten.“ Die Abteilungsleiterin sagte tatsächlich: „Auf so einen Anruf warte ich seit zehn Jahren.“

Einmal im Monat organisiere ich nun den VHS-Gesprächskreis, bereite spannende, aktuelle Themen auf, strukturiere die Diskussion. Die Resonanz ist gut, so ist neulich die Frauenakademie Tübingen auf mich aufmerksam geworden, jetzt gebe ich dort ein Seminar zu Kommunikation und Zeitgeschehen.

Es ist diese Dynamik, die mir Lust auf Zukunft macht. Ständig tun sich neue Weggabelungen auf, die in unerwartete Richtungen führen. Durch Zufall bin ich auf das Projekt „Lernen im Tandem“ gestoßen, habe erst einen jugendlichen Geflüchteten aus Afghanistan unterstützt, jetzt einen chinesischen Jungen. Für den Verein VERA des SES (Senioren-Expert-Service) begleite ich eine türkische Lehrerin, die vor dem Präsidenten der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, geflohen ist und hier eine Ausbildung zur Erzieherin macht. Ich schreibe mit an dem Buch „Queer durch Tübingen“, mache nebenher noch ein wenig GEW-Arbeit. Im Ernst, es ist toll: Wenn du die Augen offenhältst und, klar, aktiv bist, kommt die Zukunft zu dir, das ist meine Erfahrung – und mein Motor für Lebenszufriedenheit.“

Strukturierte Angebote

Seitdem sind neue Konzepte entstanden: Viele Universitäten haben extra Angebote für Seniorinnen und Senioren entwickelt, andere erlauben den Zugang zu den normalen Lehrveranstaltungen, aber legen eine Maximalteilnehmendenzahl fest. Wieder andere setzen auf einen Mix aus beidem. „Von den gut 80 staatlichen Universitäten hat gut die Hälfte ein strukturiertes Angebot für Ältere“, so Bertram. Das heißt: einen Strauß an Seminaren und Vorlesungen für Gasthörende je nach Schwerpunkt der Hochschule zu einem breiten Themenspektrum.

Aufnahmevorrausetzungen wie Abitur gibt es bis auf Ausnahmen nicht, auch keine Altersbeschränkung nach unten. Anmelden reicht. „Ein Großteil der Teilnehmenden ist zwischen 55 und 75 Jahre alt“, erläutert Bertram. 50 bis 150 Euro – im Einzelfall bis zu 300 Euro – kostet die Teilnahme pro Semester, am meisten gefragt sind Philosophie, Geschichte, Kunstgeschichte. Zu einem Abschluss führen die Angebote in der Regel nicht. An manchen Universitäten, wie an der Frankfurter U3L, gibt es eigens zusammengestellte Kurzstudiengänge, die mit einem Zertifikat abschließen, ähnlich wie bei einer Weiterbildung. Allerdings: Gerade mal 50 von derzeit gut 2.200 Studierenden an der U3L entscheiden sich für diesen Weg.

„Wir bringen Alternswissenschaftler mit Seniorinnen und Senioren in Projekten zusammen.“ (Silvia Dabo-Cruz)

Die U3L hat das umfangreichste Angebot aller Hochschulen bundesweit. Träger ist ein Verein, angedockt an die Goethe-Universität Frankfurt, der 1982 gegründet wurde. Er will Älteren einerseits Zugang zur Wissenschaft eröffnen, andererseits sie ermuntern, selbst zu forschen: Partizipative Alternsforschung nennt sich das. „Wir bringen Alternswissenschaftler mit Seniorinnen und Senioren in Projekten zusammen“, so Programmleiterin Silvia Dabo-Cruz, zum Beispiel zu Themen wie „Altern in Europa“. Das Vorlesungsverzeichnis der U3L umfasst Hunderte Kurse von Archäologie bis zu Pädagogik.

Die Veranstaltungen der strukturierten Seniorinnen- und Seniorenangebote werden in der Regel nicht von Professoren und Dozenten des Regelbetriebs durchgeführt – denn auf deren Lehrdeputat wird der Kurs nicht angerechnet. Manchmal unterrichten emeritierte Hochschullehrkräfte, meist selbstständige Dozentinnen und Dozenten mit Promotion. Menschen wie Literatur- und Filmwissenschaftlerin Nathalie Mispagel, sie ist seit 2017 an der U3L dabei – und fasziniert: „Die Studierenden sind super vorbereitet, beteiligen sich viel und schauen nicht effizienzorientiert auf den nächsten Schein, sondern suchen Sinn, Freude, Erkenntnis.“

„Wir sprechen von Erwachsenenuniversität – ein hohes wissenschaftliches Level ist selbstverständlich.“ (Nathallie Mispagel)

Didaktisch unterscheide sich der Unterricht wenig von der normalen Uni. „Allerdings müssen wir niederschwelliger beginnen, da viele keine akademischen Vorkenntnisse haben.“ Dennoch sei das Angebot alles andere als eine Freizeitbeschäftigung für Ältere. „Wir sprechen von Erwachsenenuniversität – ein hohes wissenschaftliches Level ist selbstverständlich.“ Und wenn Mispagel mit Mittsiebzigern über Filme diskutiert, lerne sie selbst dazu: „Durch die andere Lebenserfahrung sehen die Teilnehmenden in einem Film manchmal etwas ganz anderes als ich.“

Brand muss los zur U3L. Am liebsten hat er einen Mix zwischen Präsenz und online. „Aber ab und zu muss ich Hörsaalluft schnuppern.“ In Tübingen bereitet sich Wirsching gerade online auf sein Seminar vor: die USA seit dem Zweiten Weltkrieg. Und Haas ist schon auf dem Weg zu ihrer Fortbildung: „Fünf Jahre im Ruhestand – und dann? Wie wäre es mit einem Studium?“

Stadt, Land, Studium: Welches Bundesland bietet was? Unter welchen Voraussetzungen können sich Seniorinnen und Senioren an einer Hochschule einschreiben, was kostet das Studium? Der Akademische Verein der Senioren in Deutschland (AVDS) ist eine bundesweite Vertretung der Älteren und Gasthörenden an deutschen Universitäten. Er setzt sich für ein einheitliches, gemeinsames Seniorinnen- und Seniorenstudium ein. Auf seiner Website gibt der AVDS einen systematischen Überblick über das Angebot in den Bundesländern. Auch als Buch ist ein Wegweiser verfügbar: „Studienführer für Menschen in der 2. Lebenshälfte“, 5. Auflage 2022, 16,90 Euro, bestellbar über die Website.

 

Warum es sich für Ältere lohnt, noch mal an die Hochschule zu gehen.

Lernen ist etwas Wunderbares – das ist seit jeher mein Motto. Wie großartig, neue Erkenntnisse zu gewinnen, mehr über sich selbst zu erfahren, die Welt besser und noch einmal anders zu verstehen. Gerade in höherem Lebensalter, wenn das Berufsleben hinter einem liegt und man niemandem mehr Rechenschaft darüber ablegen muss, wie man die Zeit verbringt.

Die Rechercheergebnisse für diese Ausgabe des Dialog haben mich beflügelt. Das Angebot für ältere Studierende und Gasthörende an deutschen Hochschulen ist beeindruckend. Vielfältig, umfangreich, inspirierend. Und es entspricht an vielen Orten in der Republik den Forderungen, für die die GEW steht: die Öffnung der Hochschulen für alle; Bildung zur Persönlichkeitsbildung und Selbstbestimmung; lernen an selbst gewählten Orten; eine Didaktik, die sich stets weiterentwickelt; oft auch eine Begegnung von Jung und Alt. Es ist gut, dass Ältere diese Chancen nutzen und zurückkehren an die Bildungsorte, an denen sie einst gelernt haben, und die alten Institutionen neu entdecken.

Wirksam werden – das ist mein Motto mit Blick auf die politische Arbeit. Etwas verändern, nicht nur beschreiben, wo es hingehen soll. Die Entwicklungen im Seniorinnen- und Seniorenstudium zeigen, dass es vielen Akteuren gemeinsam gelingen kann, die Bildungswelt wirksam immer weiterzuentwickeln.

Frauke Gützkow, GEW-Vorstandsmitglied, verantwortlich für Seniorinnen- und Seniorenpolitik