Coronapandemie
Grundrechte im Würgegriff
Die Grundrechte stehen in Zeiten von Corona mächtig unter Druck. Mit dem dominanten Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, drohen sie unter die Räder zu geraten.
Für Heribert Prantl, knorriger Kolumnist aus der Oberpfalz und Honorarprofessor der Rechtswissenschaften an der Universität Bielefeld, kommt es einer „Kastration des Grundgesetzes“ gleich, was da in Corona-Zeiten passiert ist. Katholik Prantl weiß sehr wohl, dass es einen Staat braucht, der Autorität hat und diese auch durchsetzt. Was es aber nicht braucht, ist „autoritäres Gehabe“. Unverhältnismäßige Zugriffe auf Freiheitsrechte, von Landräten und Verwaltungsbeamten. Seine Mahnung: „Am Ende der Krise darf der Rechtsstaat nicht so am Boden liegen, dass er nicht mehr hochkommt.“ Aber um welche Grundrechte geht es eigentlich? Von den 19, die das Grundgesetz (GG) festschreibt, sind durch die Corona-Krise acht betroffen.
- Allgemeine Handlungsfreiheit – Artikel (Art.) 2 Absatz (Abs.) 1 GG: Durch viele Maßnahmen in der Krise sind die Bürgerinnen und Bürger in ihrer Handlungsfreiheit deutlich eingeschränkt. Besonders dominant ist das Kontaktverbot. Wenn wir plötzlich Freunde, Familie und Großeltern nicht mehr sehen dürfen, dann sind wir alle betroffen.
- Glaubensfreiheit – Art. 4 Abs. 1 und 2 GG: Die bundesweiten Einschränkungen greifen sowohl in die Religionsfreiheit der Kirchen, Moscheen und Synagogen als auch der Gläubigen ein: Jeder öffentliche Gottesdienst ist eine Versammlung, die nicht mehr stattfinden durfte.
- Versammlungsfreiheit – Art. 8 GG: Die Bewegung „Fridays for Future“ hat schnell auf die Einschränkung der Versammlungsfreiheit reagiert: Sie demonstrierte online. Der DGB machte es mit seiner Online-Kundgebung am 1. Mai genauso (s. GEW-Website: www.gew.de/erstermai). Die negativen Auswirkungen sind trotzdem allenthalben zu sehen: Seit Inkrafttreten der Coronaschutzverordnung fanden mit Stand Anfang Mai allein in Nordrhein-Westfalen nur sieben Demonstrationen statt – allerdings unter strengen Auflagen. Von insgesamt 102 angemeldeten Demos wurden 44 abgeblasen und 51 verboten, wie aus einem Bericht des Innenministeriums an den Landtag in Düsseldorf hervorgeht. Versammlungen oder Demonstrationen sind nach einigen Lockerungen jetzt mit Auflagen wieder möglich (begrenzte Teilnehmerzahl, Abstandsregeln etc.).
- Tarifautonomie – Art. 9 Abs. 3: Hat Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) mit seiner Covid-19-Arbeitszeitverordnung, die bis zum 30. Juni 2020 befristet ist, in die Tarifautonomie eingegriffen? Soweit will Frank Werneke, Chef der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, nicht gehen. Systemrelevante Beschäftigte, beispielswiese in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, können zwar statt maximal acht oder zehn Stunden bis zu zwölf Stunden täglich arbeiten. Kürzer könnte auch die Mindestruhezeit zwischen Arbeitsende und -beginn – und zwar von üblicherweise elf auf nun nur noch neun Stunden – ausfallen. Die Vorschrift beinhaltet aber keine generelle Ermächtigung, bestehende Tarif- oder Arbeitsverträge außer Kraft zu setzen. Die Verordnung ermöglicht den Arbeitsvertragsparteien und den Tarifpartnern, längere Arbeitszeiten und kürzere Ruhezeiten zu vereinbaren.
- Freizügigkeit – Art. 11 GG: Dieser Artikel gibt allen Deutschen das Recht, sich frei im Bundesgebiet zu bewegen. Wer sich für den Gang vor die Tür oder Reisen rechtfertigen muss, ist in seiner Freizügigkeit beschränkt.
- Berufsfreiheit – Art. 12 Abs. 1 GG: Die Berufsfreiheit umfasst sowohl die freie Berufswahl als auch die freie Berufsausübung. Insoweit war jeder, der seine Bar, sein Modegeschäft oder seine Buchhandlung schließen musste, in seiner Berufsfreiheit eingeschränkt. Auch zwangsweise verordnetes Homeoffice bei Quarantänemaßnahmen ist ein solcher Eingriff.
- Unverletzlichkeit der Wohnung – Art. 13 Abs. 1 GG: Das Kontaktverbot umfasste auch Partys in eigenen und fremden Wohnungen.
- Eigentumsgarantie – Art. 14 Abs. 1 GG: Im Grundgesetz steht: Eigentum ist Recht und Pflicht. So wird in das Eigentum eingegriffen, wenn man nicht mehr frei darüber verfügen kann. Wer nicht in sein Ferienhaus oder seine Zweitwohnung durfte, der konnte sein Eigentumsrecht nicht mehr ausüben.
Proteste nehmen zu
Was sagen die Bürgerinnen und Bürger zu den Beschneidungen? Im Politbarometer des ZDF signalisierten die Befragten ein hohes Maß an Zustimmung zu den Maßnahmen der Regierungen zur Bekämpfung der Ausbreitung von -Covid-19. Die Ausgangsbeschränkungen und das Kontaktverbot von mehr als zwei Menschen in der Öffentlichkeit hielten im April 87 Prozent für angemessen. 94 Prozent fanden es richtig, dass bis Ende August Großveranstaltungen verboten bleiben.
Bei der Befragung im Mai änderten sich die Zufriedenheitswerte kaum. Die Ende April von Bund und Ländern beschlossenen Lockerungen der Corona-Maßnahmen wurden dagegen weniger einheitlich bewertet. 47 Prozent der Befragten gaben an, dass sie den Zeitpunkt für genau richtig halten, 38 Prozent waren der Meinung, dass die Lockerungen zu früh kamen, 11 Prozent hätten sich einen früheren Zeitpunkt gewünscht.
Ab Mitte Mai nahmen die Proteste gegen die Maßnahmen zu, und es kam bundesweit zu Demonstrationen. So berechtigt die Kritik an der Einschränkung von Grundrechten ist, muss allerdings auch bedacht werden, dass ein Großteil der sogenannten Freiheit- oder Hygienedemos von Verschwörungserzählern organisiert und von Rechtsaußen instrumentalisiert wurden.
„Es sind Einschränkungen, die aber schon sehr weit gehen und in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig sind.“ (Prof. Michael Brenner, Verfassungsrechtler an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im MDR)
Warum gibt es einen Flickenteppich bei den Regelungen? Die weitreichenden, einschneidenden Maßnahmen beruhen insbesondere auf Paragraf 28 Infektionsschutzgesetz (IfSG). Diese Bestimmung sieht vor, dass bei Infektionskrankheiten (Pandemien) die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen sind. Die dazu angemessenen Ausführungsbestimmungen erlassen die Landesregierungen in Abstimmung mit dem Bund. Die Länder agieren dabei unterschiedlich.
Wie beurteilen die Gerichte die Einschränkungen? Klagen gegen die Schließung von Geschäften hatten zunächst wenig Erfolg. Das änderte sich nach den ersten Öffnungsbeschlüssen und der willkürlichen Begrenzung auf 800 Quadratmeter Verkaufsfläche.
Bei den Einschränkungen zur Versammlungsfreiheit korrigierten Gerichte generelle Verbote oder zu strenge Auflagen von Ordnungsämtern. Baden-Württemberg beispielsweise ließ zunächst gar keine Kundgebungen mehr zu. Hier mussten die Anmelder einer Demo in Stuttgart erst das Bundesverfassungsgericht anrufen. Das entschied: Versammlungen müssen auch unter den Vorgaben der Abstandsgebote möglich sein. Demonstrationszüge bleiben verboten, allein ortsfeste Kundgebungen sind erlaubt.
„Die Bundesregierung geht im Moment bis an rechtsstaatliche Grenzen, aber ich denke, sie geht nicht klar darüber hinaus.“ (Prof. Christoph Möllers, Verfassungsrechtler an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin im Online-Fachdienst „Legal Tribune“)
Der Berliner Rechtsanwalt Peer Stolle, Vorsitzender des Republikanischen Anwaltsvereins (RAV), erinnert daran, dass man normalerweise nur verpflichtet ist, Versammlungen anzuzeigen. Eine Genehmigung braucht man nicht. „Jetzt sind alle Versammlungen verboten und man muss eine Ausnahme beantragen. Das kehrt das Grundrecht in sein Gegenteil.“
Wie geht es weiter? Die Einschränkungen des öffentlichen Lebens werden laut Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) so bald wie möglich vollständig zurückgenommen: „Das garantiere ich.“ Und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Deutschen Bundestag: „Diese Pandemie ist eine demokratische Zumutung, denn sie schränkt genau das ein, was unsere existenziellen Rechte und Bedürfnisse sind.“
„Wenn sich das über eine längere Zeit hinzieht, dann hat der liberale Rechtsstaat abgedankt.“ (Prof. Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts in der Süddeutschen Zeitung)
Inzwischen spricht alles dafür, die Politiker beim Wort zu nehmen und nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Freiheit wieder hochzufahren. Wenn das so kommt, dann wäre es noch mal gutgegangen.