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Serie 30 Jahre Ost-West

Gründet in Ostberlin Gymnasien!

1990 reagierte in West-Berlin eine Koalition aus SPD und Alternativer Liste (AL), die bildungspolitische Reformen anstrebte. Mit Sybille Volkholz stellte die AL die Bildungssenatorin. Im Interview blickt die Ex-Politikerin zurück.

Im August des Jahres 1990 bekam der Leipziger Stadtteil Grünau eine Filiale der Deutschen Bank. (Foto: Harald Kirschner)

Nach dem Mauerfall 1989 schien eine Vereinigung von BRD und DDR in weiter Ferne zu liegen. Mit dem Sieg der Union bei den Volkskammerwahlen am 18. März änderte sich das schlagartig. Schon gut zwei Monate später traf sich in Bonn erstmals die Gemeinsame Bildungskommission. Etwa zur gleichen Zeit nahmen in Berlin der Einheitsausschuss aus Senat und Magistrat und der Bildungsrat ihre Arbeit auf. Die Ausgangsbedingungen waren hier andere als auf Bundesebene. In West-Berlin regierte eine Koalition aus SPD und Alternativer Liste (AL), die bildungspolitische Reformen anstrebte, mit Sybille Volkholz stellte die AL die Bildungssenatorin. Im Interview blickt die Ex-Politikerin auf die damaligen Ereignisse zurück.

  • E&W: Frau Volkholz, Ziel des von Ihnen eingesetzten Berliner Bildungsrats war es, die Bildungssysteme der jahrzehntelang geteilten Stadt zusammenzuführen. Am Ende dieses Prozesses stand ein Ergebnis, bei dem ostdeutsche Erfahrungen und Bildungstraditionen keine Rolle spielten. Teilen Sie diese Einschätzung?

Sybille Volkholz: Ganz und gar nicht. Die Erfahrungen spielten selbstverständlich eine Rolle. Seit dem Fall der Mauer im November 1989 gab es Kontakte zwischen Schulen im West- und im Ostteil der Stadt. Wir haben Voraussetzungen für den Austausch geschaffen, die Schulen sollten sich wechselseitig Partnerschulen aus dem anderen Teil der Stadt suchen. Wir haben ab Mai 1990 Arbeitsgruppen aus dem West-Berliner Senat und dem Ostberliner Magistrat gebildet. Ziel war es von meiner Seite aus, das Schulsystem in Ost wie West zu reformieren, also die Strukturfrage zu stellen. Dazu wurde ein Bildungsrat eingesetzt, der paritätisch aus West- und Ost-Wissenschaftlern bestand. Das Ergebnis war schließlich die Empfehlung für ein Zwei-Säulen-Modell, basierend auf einer sechsjährigen Grundschule sowie der Gesamtschule und dem Gymnasium als weiterführende Bildungsgänge. Die Hauptschule sollte abgeschafft werden. Im Osten wurde dieses Modell umgesetzt; vereinzelt gab es dort noch Realschulen, aber so gut wie keine Hauptschulen mehr. In West-Berlin hat es bis 2010 gedauert, bis die Sekundarschule eingeführt wurde.

  • E&W: Die heutige Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD), die in der Wendezeit als Lehrerin tätig war und sich in einer reformpädagogischen Initiative engagierte, kritisiert rückblickend, dass dem Osten das auf frühzeitige Selektion setzende westdeutsche Schulmodell übergeholfen worden sei. Die Verantwortung dafür trügen die westdeutschen Politiker. Hätte man dem Osten damals mehr Zeit und Freiheiten geben müssen?

Volkholz: Da widerspreche ich Frau Ludwig entschieden. Die Entwicklung war in Berlin, aber nicht nur dort, eine andere. Seit Herbst 1989 konnten sich die Gymnasien im Westen vor Anmeldungen aus dem Ostteil der Stadt nicht mehr retten. Der Druck von den Schulleitungen auf uns Politiker wurde immer größer. Die Forderung lautete: Gründet in Ostberlin Gymnasien! Gemeinsam mit Dieter Pavlik (SPD), dem Stadtrat für Bildung im Ostberliner Magistrat, habe ich drei Konferenzen zur Zukunft der Schulen in Ostberlin abgehalten. Dort bestand aber an einer Schulstrukturdebatte keinerlei Interesse. Die Kolleginnen und Kollegen interessierte vordringlich die Antwort auf eine Frage: Ist mein Arbeitsplatz sicher? Das Interesse, über Schulstrukturen und Inhalte zu debattieren, war auch auf dieser Ebene gering ausgeprägt. Das darf man den Lehrkräften nicht zum Vorwurf machen, schließlich ging es für die meisten um die berufliche und wirtschaftliche Existenz. Unsere Strategie, den Ostteil nicht zu überrollen, war an den Bedürfnissen der Familien und seit der Volkskammerwahl im März und den Magistratswahlen in Ostberlin im Mai 1990 an den politischen Mehrheiten in der DDR gescheitert.

  • E&W: Hatten Sie keine Möglichkeit, zumindest die Entwicklung zu verzögern, den Schulen mehr Zeit für den Übergang zu geben? Dass der Osten im Vereinigungsprozess am längeren Hebel saß, kann man jetzt wahrlich nicht sagen.

Volkholz: Die politischen Mehrheiten waren andere. Ich habe Hans-Joachim Meyer (CDU), der in der Regierung von Lothar de Maizière (CDU) Bildungs- und Wissenschaftsminister war, mehrfach gebeten, den Umbau und die Anpassung an das westdeutsche Modell nicht übers Knie zu brechen. Genutzt hat es nichts. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass die Mehrheit in der damaligen DDR anders gewählt hat. Wir waren in der Minderheit – in Ost wie West. Das sollten sich auch jene eingestehen, die heute darüber klagen, dass der Westen dem Osten 1990 im Schnellverfahren sein Gesellschaftssystem übergestülpt habe. Das System des Westens wurde von Ostpolitikern übernommen. Auch die Volkskammer hatte den Beitritt gewählt.

  • E&W: Wie erklären Sie sich, dass selbst einer SED-Ideologie unverdächtige Merkmale des DDR-Schulsystems wie die einphasige Lehrerausbildung im Osten abgeschafft und das westdeutsche Modell eins zu eins übernommen wurde?

Volkholz: Im „Einheitsausschuss“ hatte ich die einphasige Lehrerausbildung zumindest als Modellversuch von der Humboldt-Universität vorgeschlagen, die Ausbildung sollte vollständig an der Universität absolviert, der Vorbereitungsdienst abgeschafft werden. Ich konnte mich damit nicht durchsetzen. Das hat niemanden interessiert, selbst die PDS nicht. Und auch meine Fraktion im Abgeordnetenhaus hat dem nur mir zuliebe zugestimmt, nicht weil man inhaltlich hinter der Forderung stand. Man muss sich in Ost wie West auch hier eingestehen, dass das Thema Schulbildung bis zur Veröffentlichung der ersten PISA-Studie zu Beginn der 2000er-Jahre in der Politik nicht wirklich auf großes Interesse gestoßen ist.

  • E&W: Wenn man als Politiker auf einem Senatorenposten oder in einem Ministeramt etwas verändern will, muss man die eigene Behörde auf seiner Seite wissen. Wie sah das in Ihrer Zeit als Bildungssenatorin von Berlin aus?

Volkholz: Ich hatte noch in meiner Amtszeit ein Austauschprogramm zwischen Schulen in Auftrag gegeben. Jede Lehrkraft sollte mindestens ein Vierteljahr in einer Schule im jeweils anderen Stadtteil unterrichten. Das Programm wurde von der Verwaltung solange ausgebremst, bis ich nicht mehr im Amt war und Berlin eine neue, CDU-geführte Regierung hatte. Einzelne Lehrkräfte haben von sich aus an anderen Schulen hospitiert, aber das waren fast ausschließlich Kolleginnen und Kollegen aus West-Berlin.

  • E&W: Wenn Sie nach 30 Jahren auf die Entwicklung und die Ereignisse des Jahres 1990 zurückblicken, wie fällt Ihr Resümee aus, was sehen Sie positiv?

Volkholz: Als Erfolg bewerte ich, dass die Einführung des Zwei-Säulen-Modells weitgehend gelang bzw. vorbereitet wurde und die gemeinsame Erziehung von Behinderten und Nichtbehinderten sich auch im Osten etabliert hat. Wir haben damit auch den Grundstein für die Inklusion gelegt. In der DDR wurden diese Kinder als „Kinder mit Schädigungen“ bezeichnet und teilweise in Internaten separiert. Dass es gelungen ist, diese Denkweise aufzubrechen, war ein großer Erfolg.

  • E&W: Was würden Sie rückblickend anders machen?

Volkholz: Im Einigungsprozess ist das hohe Bildungsniveau der DDR-Schulen, insbesondere in den Naturwissenschaften und an den Grundschulen, leider vollständig unter den Tisch gefallen. Gerade im Vergleich zu West-Berlin war der Leistungsanspruch beispielsweise in den Naturwissenschaften deutlich höher. In der Regel konnten die Kinder im Ostteil der Stadt in der zweiten Klasse lesen und schreiben, was im Westteil nicht alle konnten. Auf unserer Seite hat es zu wenig Bereitschaft gegeben, aus dieser Erfahrung zu lernen und zu überlegen, was können wir davon für uns übernehmen. Zudem hatten die ostdeutschen Lehrkräfte ein ganz anderes Professionsverständnis. Für sie war es vollkommen normal, nachmittags in den Schulhorten anwesend zu sein und dass sie sich für schlechte Zensuren ihrer Schülerinnen und Schüler rechtfertigen mussten. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich erst nach der Veröffentlichung von Studien wie TIMSS oder PISA begriffen habe, dass wir in dieser Hinsicht 1990 einen gravierenden Fehler gemacht haben.