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Dialog

Glückliche Alterszeit

Im Ruhestand müssen Menschen ihren Umgang mit der Zeit neu sortieren. Wenn die Strukturen des Erwerbslebens wegfallen, braucht es andere Rhythmen und Muster. Die Forschung zeigt: Die Zeitautonomie macht viele zufriedener als je zuvor.

Wie können wir zufriedener mit unserer Zeit umgehen und sie so gestalten, dass es uns guttut? (Foto: Pixabay/CC0)

Im Grunde war in Katja Plazikowskys Alltag immer Hektik. Die Arbeit an der Förderschule, die Aufgaben als Personalrätin. Sich um die Kinder kümmern, später die chronisch kranke Mutter pflegen. Nach der Pensionierung vor sechseinhalb Jahren blieb Zeit ein rares Gut, die innere Unruhe steter Begleiter. Erst erkrankte Plazikowskys Mann schwer, dann kam ihr Vater ins Heim. Zum Glück gleich nebenan, so kann sie leicht vorbeischauen. Seit ihr Mann wieder gesund ist, sind ab und zu Reisen zu Kindern und Enkeln möglich, auch Besuche im Fitnessstudio. Plazikowsky sitzt im Vorstand der GEW-Personengruppe Frauen in Wiesbaden, demnächst will sie ihre Familiengeschichte aufarbeiten. Sie hat sich vorgenommen: „Gelassener werden und die Zeit genießen.“

Wie können wir zufriedener mit unserer Zeit umgehen und sie so gestalten, dass es uns guttut? Für Menschen im Ruhestand stellen sich diese Fragen neu. Mit dem Abschied vom Erwerbsleben fällt die Arbeit als wesentliche Organisationsstruktur des Alltags weg. „Die Zeit als soziale Konstruktion, die der Logik des Arbeitslebens folgt, strukturiert seit der Industrialisierung unser gesellschaftliches Leben“, erläutert Dietrich Henckel, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik in Berlin. Zwar ist das starre Korsett längst durch flexible Arbeitszeiten und Digitalisierung aufgeweicht. Doch das Zeitkonzept der Erwerbsarbeit taktet nach wie vor den Alltag. „80 Prozent der Menschen wachen mit dem Wecker auf“, so Henckel. Und wanken oft unausgeschlafen durchs Leben.

„Ein wichtiger Faktor für die Zufriedenheit im Alter ist dabei Zeitautonomie.“ (Dietrich Henckel)

Insofern lässt sich die Befreiung von diesen Zeitstrukturen als Gewinn interpretieren. Kein frühes Aufstehen mehr, kein Termindruck. „Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass Lebenszufriedenheit u-förmig verläuft: Am glücklichsten sind Kinder – und alte Menschen“, so Henckel. „Ein wichtiger Faktor für die Zufriedenheit im Alter ist dabei Zeitautonomie.“

Joachim Schulte genießt sie jeden Tag neu. Aufstehen um 5.30 Uhr? Vorbei. Bergeweise Deutschkorrekturen? Nie wieder. Zeitfresser-Konferenzen? Schnack von gestern. Sicher, der Gymnasiallehrer aus Mainz vermisst die Arbeit mit jungen Menschen. Aber seit der Pensionierung kann er selbstbestimmt weiterführen, was ihm als Sprecher von QueerNet Rheinland-Pfalz wichtig war: pädagogisch aufklären zum Thema queer. „Und jetzt ist der Terminkalender dafür meine Entscheidung.“ Plane ich heute lieber zwei Treffen ein oder drei? Will ich bis nachts arbeiten und lange schlafen oder lieber um sechs Uhr Schluss machen? „Die Autonomie zwingt einen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.“ Dabei ist Schulte klar geworden: Er braucht Struktur. Seitdem kocht er mittags in Ruhe für sich. „Rituale bekommen eine neue, wohltuende Bedeutung.“

Zeitautonomie ist ein wesentlicher Faktor für die hohe Lebenszufriedenheit vieler älterer Menschen – diese Bilanz der Forschung ist ermutigend. Wir können daraus viel lernen: für die Gestaltung unserer Arbeitswelt und die gewerkschaftliche Zeitpolitik. Es wird Zeit, dass auch Beschäftigte ihre Zeit so weit wie möglich autonom gestalten können – je nachdem, wie es zu ihrer Lebensphase passt. Berufseinsteigende haben davon andere Vorstellungen als Menschen, die kleine Kinder haben oder Pflegeverantwortung übernehmen. Menschen, die beruflich durchstarten möchten, wünschen sich etwas anderes als jene, die sich auf die letzten Berufsjahre einstellen.

Als Gewerkschaft kämpfen wir gegen Befristungen und für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung. Wir setzen uns für gute Teilzeitregelungen und kürzere Arbeitszeiten im Alter ein. Wir kennen Elternzeit, Elterngeld, Pflegezeit und Sabbaticals. Seit einigen Jahren geht gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik aber über diese Ansätze hinaus. Individuelle „Lebensrisiken“ wie Kindererziehung oder Pflege, aber auch Weiterbildungszeiten werden von manchen Gewerkschaften bereits tariflich geregelt. Wir fordern mehr Flexibilität für die Beschäftigten.

Lasst uns diskutieren, was wir von der Zeitautonomie Älterer für den Umgang mit Zeit im Beruf noch lernen können – mit gewerkschaftlichem Blick. Denn um individuelle Gestaltungsmöglichkeiten zu eröffnen, brauchen wir kollektive Vereinbarungen.

Frauke Gützkow, GEW-Vorstandsmitglied, verantwortlich für Seniorinnen- und Seniorenpolitik

Neugierig sein, neue Erlebnisse suchen

Damit liegt Schulte nach Einschätzung des österreichischen Chronobiologen Maximilian Moser genau richtig: „Zeit spielt eine wichtige Rolle für die Gesundheit.“ Denn sie beeinflusst die Prozesse im Körper. Alle Gene werden rhythmisch gesteuert, für jeden Zeitraum ist ein anderer Mix aktiver Gene charakteristisch, vom Aufbau einer Zelle bis zum Abbau. Die Zeit sei so etwas, erklärt Moser, wie ein Körper im Körper. „Ein Netz aus Rhythmen im Organismus.“

Umso wichtiger ist es, den Rhythmus auch im Alltag zu pflegen. Statt Nächte durchzuzechen besser abends um die gleiche Zeit ins Bett gehen. Statt durch den Tag zu eilen besser ihn in Phasen der Aktivität, der Entspannung, des Essens gliedern. „Ideal ist ein Wechsel im Eineinhalb- bis Zwei-Stunden-Rhythmus“, so Moser. Eine Untersuchung zur Langlebigkeit von 100-Jährigen hat gezeigt, dass sie zwei Dinge signifikant teilen: Alle leben mit Maß – und Rhythmus.

„Ich möchte etwas weniger Aktivitäten in der Freizeit.“ (Luzia Vorspel)

Für Luzia Vorspel ist das selbstverständlich. Bis zum Ruhestand hätte die 63-jährige noch drei Jahre, aber sie will ein wenig länger arbeiten. Vorspel lehrt Literaturwissenschaft an der Universität Bochum und gibt Seminare zum Thema Zeit, wichtig dabei sind Struktur und Rhythmen. „Das möchte ich natürlich auch selbst einhalten.“ Den Sonntag hält sie frei von Arbeit, Urlaub ist Urlaub, die Mittagspause eine eiserne Regel. Seit einer Weile merkt Vorspel, wie sich ihr Zeitempfinden verändert. „Ich möchte etwas weniger Aktivitäten in der Freizeit.“ Und wenn, müssen diese gut geplant sein. Daher hat sie jetzt schon Vorkehrungen für die Zeit nach ihrem Erwerbsleben getroffen. Seit zwei Jahren engagiert sie sich im Vorstand eines literarischen Vereins. „Das gibt Sinn, und neue Freundschaften entstehen.“

Wie aber kommt Zeitempfinden überhaupt zustande? „Wir unterscheiden zwischen Zeitwahrnehmung im Moment und in der Rückschau“, erläutert der Freiburger Neurobiologe Marc Wittmann. Beim Warten an der Bushaltestelle dehnt sich die Zeit zäh, weil ich auf sie achte. Beim tollen Abend mit Freunden rast sie vorbei, weil ich abgelenkt bin. Umgekehrt in der Rückschau: Das Warten auf den Bus ist schnell vergessen, zu uninteressant. Den tollen Abend speichert das Gedächtnis, weil er emotional berührt. Wittmanns Rat, um die Zeit zu dehnen: Neugierig sein, neue Erlebnisse suchen.

Dass im Laufe des Lebens die Zeit allmählich schneller vergeht, ist gut erforscht. Je älter ein Mensch ist, desto mehr Routinen sind etabliert, Zäsuren wie neuer Job oder Stadtwechsel fehlen meist. Schulte bemerkt diese Beschleunigung. „Mit 50 Jahren habe ich gedacht: einfach mal loslegen. Seit ich 60 bin, frage ich mich eher:
Was kann ich realistisch noch schaffen?“ Egal ob es um ein queeres Projekt mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geht oder ein Landesgleichbehandlungsgesetz. „Ich schaue heute eher mit dem Blick von oben auf mein Leben – und das will ich umso intensiver genießen.“ 

Uta Sändig, 70, Brandenburg, war Lehrerin im Erzgebirge und Dozentin für die Didaktik „Deutsch als Fremd-sprache“ an der Universität Potsdam. Seit drei Jahren ist sie im Ruhestand.

Neu? So halb. Eher habe ich im Ruhestand endlich wieder etwas aktiviert, das mir schon immer Freude gemacht hat: Schreiben und Malen. Ich habe Kunsterziehung studiert und einige Jahre unterrichtet. Ich liebe es, zu zeichnen und Texte zu schreiben. Für die Landeszeitung der GEW Brandenburg schreibe ich schon seit Längerem einmal im Monat einen Artikel auf der Wissenschaftsseite. Jetzt habe ich auch Zeit für kleine Erzählungen, zum Beispiel über meine Oma, die Kranzschleifendruckerin war, oder für Kindergeschichten. Beides wird ab und zu in den Brandenburger Blättern für Literatur veröffentlicht.

Einmal im Jahr gestalte ich einen Jahreskalender mit Zeichnungen und Gedichten von mir, den ich drucken lasse. Ursprünglich war er für Familie, Freunde, Nachbarn gedacht. Seit die Lokalzeitung darüber berichtet hat, bestellen ihn auch andere. Ein befreundeter Maler will mich gerade überreden, meine Arbeiten in einer Ausstellung zu zeigen. Aber ich exponiere mich nicht so gern.

Lieber stecke ich Zeit in meine anderen Aktivitäten: Ausländische Studierende an meiner alten Hochschule betreuen und die Berlin-Brandenburgische Auslandsgesellschaft pädagogisch beraten; einen Online-Vortrag über Gendern für einen Bürgergesprächskreis halten, bei den Linken im Kreisverband das Thema Ausländerpolitik voranbringen. Und natürlich ganz viel mit meinen Enkeln machen, seit Corona meist über Skype. Mal entwerfe ich für sie ein Lernquiz, mal berate ich meinen Enkel für seinen Fußball-Podcast. Und das ist natürlich schon neu und ziemlich lustig.