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Inklusion

Glas halb voll oder halb leer?

Immer mehr Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden an allgemeinen Schulen unterrichtet. Ein Selbstläufer ist inklusive Bildung damit aber noch lange nicht.

Wären Schulen Wirtschaftsunternehmen und Lehrkräfte Analysten, dann ließe sich ein positiver Geschäftsbericht formulieren, ohne dass dabei jemand mogeln müsste. Die Schlagzeile würde so lauten: „Inklusion ist erfolgreich. Im Jahr 2008 gingen noch 4,9 Prozent aller Schülerinnen und Schüler auf eine Förderschule, 2017 waren es nur noch 4,3 Prozent.“ Das wäre nicht gelogen, aber doch nur die halbe Wahrheit.

Das weiß auch der Bildungswissenschaftler Klaus Klemm, der vor einigen Wochen im Auftrag der Bertelsmann Stiftung genau diese neuen Zahlen zur inklusiven Bildung präsentiert hat. „Inklusion kommt voran“, so lautet sein Fazit – gleich darauf schiebt er jedoch ein großes Aber nach: „Die regionalen Unterschiede sind groß.“ Mit Blick auf das Thema Bildungsgerechtigkeit heißt das: Es hängt immer noch stark vom Bundesland, der Region, der Kommune als Schulträger und der Schule selbst ab, ob ein Kind mit Beeinträchtigung an der Förderschule oder gemeinsam mit anderen an der Regelschule lernt.

Auf Länderebene ist die Varianz bei der sogenannten Exklusionsquote – die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die an Förderschulen lernen – erheblich. Schlusslicht ist laut der Bertelsmann-Studie Mecklenburg-Vorpommern mit 6 Prozent, Inklusionsvorreiter ist Bremen mit 1,2 Prozent. Ein Blick in das Land des Spitzenreiters zeigt, dass die Quote zwar Hinweise darauf gibt, welche Priorität inklusive Bildung bei einer Landesregierung genießt. Die Zahlen sagen aber nichts über die Qualität des gemeinsamen Unterrichts und wenig über die Bereitschaft einzelner Schulen und Schulformen, Inklusion tatsächlich umzusetzen. 

Kurz nach Veröffentlichung des Bertelsmann-Berichts machte Bremens Bildungssenatorin Claudia Bogedan (SPD) in der Auseinandersetzung mit einem Gymnasium einen Rückzieher. Die Schule wollte keine Schülerinnen und Schüler mit geistigen Behinderungen aufnehmen. Mit einer entsprechenden Klage war die Schule zwar gescheitert, doch die Kinder wechselten dennoch auf eine inklusionserfahrene Gesamtschule. Begründung der Bildungssenatorin: Im Sinne der Kinder könne sie die Situation sonst nicht mehr verantworten.

Bund und Länder „haben weder eine Strategie noch Standards vorgelegt, wie Inklusion an den Schulen umgesetzt werden sollte“. (Ilka Hoffmann)

Der Einzelfall schmälert nicht die Inklusionserfolge in Bremen. Aber er zeigt exemplarisch die Widerstände und Zufälligkeiten, auf die Eltern beeinträchtigter Kinder bei der Schulwahl in allen Bundesländern immer noch stoßen. Der Sozialverband VdK schlägt deshalb nach der Publikation der eigentlich positiven Inklusionszahlen Alarm. „Es darf nicht vom Wohnort der Familien abhängen, ob Kinder die Förderschule oder eine Regelschule besuchen“, kommentierte die VdK-Präsidentin und ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele. Sie forderte eine verbindliche Gesamtstrategie für inklusive Bildung – in Form eines Bundesrahmengesetzes mit Eckpunkten für eine „quantitativ und qualitativ gute Schulentwicklung in allen Bundesländern“.

Auch die GEW sieht in den neuen Zahlen keinen Grund zum Jubeln. Ilka Hoffmann, im Vorstand verantwortlich für den Bereich Schule, spricht von „bescheidenen Fortschritten“ und kritisiert Bund und Länder: „Sie haben weder eine Strategie noch Standards vorgelegt, wie Inklusion an den Schulen umgesetzt werden sollte.“ Viele Länder gingen halbherzig bis zögerlich vor, der Bund eher theoretisch. Hoffmann hält ein Bund-Länder-Programm für nötig, wenn Inklusion nicht vor die Wand fahren soll. Den Verweis auf Inklusionserfolge beim Förderschwerpunkt Lernen – hier sank die Exklusionsquote von 2,1 auf 1,3 Prozent – lässt Hoffmann nur zum Teil gelten. Die Bertelsmann Stiftung spreche von einer „Annäherung an internationale Standards, doch die in Deutschland übliche Kategorie ,Lernbehinderung‘ gibt es in kaum einem anderen Land der Welt“, sagt die Schulexpertin.

In der Bundesrepublik existieren etwa zehn verschiedene Förderschwerpunkte, die von Land zu Land etwas variieren. Bildungsforscher Klemm hat in seiner Analyse große Unterschiede festgestellt und kritisiert: „Die Chance auf Inklusion hängt nicht nur vom Wohnort, sondern auch vom Förderschwerpunkt ab.“ So hat sich anders als für Kinder mit Lernhandicaps für Schüler mit den Diagnosen „geistige Entwicklung“ sowie „körperliche und motorische Entwicklung“ zwischen 2008 und 2017 kaum etwas verändert. Bei den Schülern mit sozial-emotionalen Handicaps gibt es heute sogar mehr Exklusion.

„Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die in einer Regelschule unterrichtet wurden, weisen in allen untersuchten Bereichen höhere Leistungen auf als vergleichbare Schülerinnen und Schüler in Förderschulen.“

Klemm und auch andere Experten vermuten, dass hinter dieser Entwicklung das sogenannte Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma steckt. „Kindern, die früher dem Schwerpunkt ‚Lernen’ zugeordnet wurden, wird jetzt Förderbedarf bei der geistigen oder sozial-emotionalen Entwicklung zugeschrieben“, sagt Klemm. „In vielen Bundesländern bekommen Schulen dann nämlich mehr Ressourcen.“

Den Weg vieler Bundesländer, das Doppelsystem aus Förderschulen auf der einen und allgemeinen Schulen auf der anderen Seite aufrecht zu erhalten, sieht Klemm kritisch, weil die Förderschulen nach wie vor viele Ressourcen binden. Er moniert außerdem, dass zwar die mangelnde Qualität inklusiver Bildung an den allgemeinen Schulen immer wieder in der Kritik stehe. Über die Qualität des Unterrichts an Förderschulen werde dagegen kaum gesprochen. 

Dabei hatten Bildungswissenschaftler vom Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in einer Studie schon vor einigen Jahren gezeigt, dass Kinder mit Förderbedarf an allgemeinen Schulen in der Regel mehr lernen als an Förderschulen. Das Fazit der Forscher: „Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die in einer Regelschule unterrichtet wurden, weisen in allen untersuchten Bereichen höhere Leistungen auf als vergleichbare Schülerinnen und Schüler in Förderschulen.“