Gewerkschaftsfeindliches Klima in Ungarn
Alles wird von oben entschieden
Die Bildungsgewerkschaft PDSZ warnt vor drohenden Einschnitten bei den Rechten der Beschäftigten in Ungarn. Ein Interview mit der Lehrerin und Vertreterin der PDSZ Erzsébet Nagy.
Die Bildungsgewerkschaft PDSZ hatte sich an die GEW gewandt, um auf drohende Einschnitte bei den Rechten der Beschäftigten aufmerksam zu machen. Ein Interview mit Erzsébet Nagy, Lehrerin und Vertreterin der PDSZ, über COVID-19, die Proteste und das gewerkschaftsfeindliche Klima in Ungarn.
- Wie ist die Situation an den Schulen in Ungarn?
Erzsébet Nagy: In Ungarn waren seit März bis zum Schuljahresende zunächst alle Schulen geschlossen. Das neue Schuljahr begann für alle Schulen wieder am 1. September. Die Corona-Infektionen steigen in Ungarn und die Situation an den Schulen ist sehr gefährlich. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer haben Angst wegen unzureichender Hygienekonzepte. Schüler*innen und Lehrkräfte werden nicht getestet. Auch wenn sie Symptome zeigen, müssen sie nur in die häusliche Quarantäne gehen. Ein weiteres Problem ist, dass die Möglichkeiten fehlen, die Kontaktpersonen von Infizierten ausfindig zu machen. Das bedeutet, dass die Familienmitglieder von Infizierten häufig weiter in die Schule oder zum Arbeitsplatz gehen.
- Wofür setzt sich die PDSZ ein?
Nagy: Wir sind die zweigrößte Bildungsgewerkschaft und kämpfen an den Schulen für bessere COVID-19-Testmöglichkeiten sowie für sichere und gesunde Arbeitsbedingungen. Wegen des erhöhten Risikos sehen wir aktuell eine erneute Schließung der Schulen als notwendig an. Die Schulen sollten das Recht haben, sich für den digitalen Unterricht zu entscheiden, wenn die Arbeit und der Aufenthalt in der Schule nicht mehr sicher sind.
Eine weitere Aufgabe ist die Bezahlung der Überstunden sowie eine angemessene Erhöhung der Gehälter. Grundsätzlich kritisieren wir auch, dass die Mitbestimmungsrechte an den Schulen immer weiter abgebaut wurden. Früher konnten die Lehrkräfte über die Besetzung der Schulleitungen mitentscheiden. Ende der 90er Jahre wurde das geändert, und wir erhielten nur noch die Möglichkeit zur Stellungnahme. Seit 2019 haben die Lehrkräfte, Eltern- und Schülervertretungen auch dieses Recht verloren. Alles wird von oben entschieden.
- Was bedeutet das für die Lehrkräfte?
Nagy: In den 90er Jahren gab es einen Rahmenlehrplan. Die Lehrkräfte konnten in diesem Rahmen den eigenen Lehrplan der Schule zusammenstellen und damit ihr eigenes Schulkonzept gestalten. In der Ära der Fidesz-Partei von Präsident Viktor Orbán ist auch das von oben vorgeschrieben. Die Lehrkräfte dürfen nicht mehr entscheiden, welche Werke und Schriftsteller sie unterrichten. Im Fach Geschichte wird vorgeschrieben, was und wie der Lehrer oder die Lehrerin in der Klasse von den historischen Ereignissen unterrichten soll. Wir müssen zum Beispiel vor allem über Erfolge in der ungarischen Geschichte sprechen und weniger über Misserfolge. Geschichtsverfälschungen in den vielfach nationalistischen Schulbüchern sind nicht gerade selten. Als Pädagoginnen und Pädagogen haben wir in den letzten zehn Jahren unsere Autonomie fast völlig verloren. Andersdenkende haben es unter der nationalistischen Regierung schwer.
- Das betrifft auch die Hochschulen. In Budapest protestieren Schülerinnen, Schüler und Beschäftigte der Universität für Theater und Filmkunst (SZFE). Die Studierenden in der GEW haben sich mit den Protesten solidarisiert.
Nagy: Das freut uns! Die PDSZ hat sich ebenfalls solidarisch erklärt und wir unterstützen aktiv den Streik der Studierenden und der Beschäftigten an der SZFE. Dazu müssen wir erneut vor Gericht gehen, weil die Regierung den Streik massiv behindert. Studierende und Beschäftigte kämpfen für die Autonomie der Universität, die durch die Regierung eingeschränkt werden soll. In den vergangenen Monaten sind mehrere Beschäftigte der Hochschule in die PDSZ eingetreten. Wir unterstützen sie und gewähren Rechtsschutz.
- Das Klima in Ungarn ist gewerkschaftsfeindlicher geworden?
Nagy: Das stimmt leider. Es gibt ein Klima der Einschüchterung. Als die Regierung das Abitur auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie organisiert hat, haben wir gefordert, das Abitur zu verschieben und einen Boykott der Lehrkräfte und Eltern organisiert. Vermutlich als Reaktion auf unseren Boykottaufruf hat der Staatssekretär Zoltan Maruzsa die Gewerkschaft mit Terroristen der „Rote Armee Fraktion“ (RAF) verglichen. Nicht nur die PDSZ, sondern mehrere Gewerkschaftsverbände forderten den Staatssekretären auf, sich bei der PDSZ zu entschuldigen. Da sich der Staatssekretär weigerte, sind wir vor Gericht gegangen. Auch die Rechte der Beschäftigten und Gewerkschaften werden immer weiter eingeschränkt.
- Wie macht sich das bemerkbar?
Nagy: In Ungarn wurde der Rechtsstaat seit 2010 Schritt für Schritt abgebaut. Zunächst wurde das Streikgesetz geändert. Zuvor hatte es ausgereicht, wenn wir über Mindestbesetzungen bei Streiks verhandelt haben. Kam es zu keiner Einigung, galt der Streik dennoch als legal. Seit 2011 muss eine Vereinbarung über die Mindestbesetzungen erzielt werden. Andernfalls wird der Streik als illegal angesehen und es drohen Kündigungen.
Das Streikgesetz legt nicht fest, in welchen Bereichen die Mindestbesetzungen zu gewährleisten sind. Es ist auch unklar, mit wem die Gewerkschaft über diese verhandeln muss, wenn sie einen Streik organisieren will. Bis 2019 haben wir über die Mindestbesetzungen mit den Arbeitgebern verhandelt. Dann wurde unser Streik durch einen juristischen Trick verhindert: Der Gerichtshof hat erklärt, dass wir über die Mindestbesetzungen mit der Regierung verhandeln und Vereinbarungen schließen müssen. Die Regierung aber will den Streik unsichtbar machen und verweigert die Verhandlung mit den Sozialpartnern. Sie will, dass die Lehrkräfte auch während des Streiks 90 Prozent ihrer Stunden durchführen. Wir haben die Gerichtsentscheidung angefochten, aber unseren Streik konnten wir nicht durchführen. Es muss leider so deutlich gesagt werden, dass es praktisch nicht mehr möglich ist, einen Streik in Ungarn im öffentlichen Sektor legal zu organisieren.
- Erwartet Ihr Euch Unterstützung von den Gerichten?
Nagy: Bei Streiks sollen die Gerichte im Konfliktfall laut Gesetz innerhalb weniger Tage entscheiden, aber das passiert nicht immer. Der Oberste Gerichtshof, der sog. „Kúria“, ist an keinen Termin gebunden. Über eine unserer Klageschriften wurde seit mehr als einem Jahr nicht entschieden. Insgesamt ist es um die Arbeitnehmerrechte in Ungarn nicht gut bestellt, Arbeitsrechtsverletzungen haben kaum Folgen. Selbst wenn eine Kündigung rechtswidrig ist, muss der Arbeitgeber nur einen geringen Schadensersatz zahlen. So ist die Zahl der Klagen beim Arbeitsgericht gesunken. Die Gewaltenteilung funktioniert in der Fidesz-Ära immer weniger. Was uns hoffnungsvoll stimmt ist die Solidarität, die wir von Gewerkschaften in anderen Ländern erfahren. Diese Zusammenarbeit ist wichtig, damit wir gemeinsam für Verbesserungen im Bildungsbereich eintreten können.