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Ungarn

„Gewerkschaften sind Victor Orbáns Feindbild“

Die PDSZ (Demokratische Lehrervereinigung) ist die zweitgrößte Bildungsgewerkschaft Ungarns, jüngst besuchte eine Delegation die GEW. E&W sprach mit Orsolya Kamrás, Lehrerin für Literatur, Grammatik und Philosophie sowie Mitglied des Hauptvorstandes.

Orsolya Kamrás, Mitglied des Hauptvorstandes der ungarischen Bildungsgewerkschaft PDSZ
  • E&W: Welche Erwartungen verbinden Sie mit Ihrem Besuch bei der GEW?

Orsolya Kamrás: Ziel unseres Besuches ist der Austausch von Erfahrungen. Wir möchten von den deutschen Kolleginnen und Kollegen hören, wie sie Mitglieder für die Gewerkschaft gewinnen, insbesondere junge Menschen. Bei uns haben diese wenig Interesse an Gewerkschaften. Das hört sich für sie zu sehr nach vergangenen Zeiten an. Deshalb sind wir froh, dass uns die Friedrich-Ebert-Stiftung bei diesem Gedankenaustausch mit der GEW unterstützt.

  • E&W: Wie hat sich Ihre Arbeit unter der rechtsgerichteten Regierung von Victor Orbán verändert?

Kamrás: In den vergangenen zwölf Jahren wurden Orbán Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und Zivilgesellschaft immer mehr zum Feindbild. Im Bildungssektor hat er früh auf Zentralisierung gesetzt. Das hat ihm viel Kritik eingebracht. Die Zentralisierung und das, was ihr folgte, wurde ohne Rücksprache mit den Gewerkschaften umgesetzt. Bis heute verweigert sich die Regierung echten Gesprächen. Mit der Nationalen Lehrerkammer hat sie sich ein eigenes Organ geschaffen. Echte Mitwirkungsrechte gibt es dort aber nicht.

  • E&W: Welchen Herausforderungen sehen sich die Bildungsgewerkschaften gegenüber?

Kamrás: Der Lehrkräftemangel ist ein großes Thema. Es fehlt an Nachwuchs. Es gibt sehr wenige Leute, die ein Lehreramt studieren. Und von diesen entscheiden sich am Ende des Studiums zwei Drittel, doch eine andere Stelle anzutreten. Die schlechte Bezahlung der Lehrinnen und Lehrer sowie die übermäßige Arbeitsbelastung tragen ihren Teil dazu bei. Seit 2014 gab es keine Lohnerhöhung. Ich arbeite seit 23 Jahren im Schuldienst und komme auf weniger als umgerechnet 1000 Euro brutto im Monat. Wer bei Aldi oder Lidl anfängt, hat das vom Start weg.

  • E&W Die Bildungsgewerkschaften in Ungarn streiken aktuell. Worum geht es?

Kamrás: Wir sprechen lieber von zivilem Ungehorsam. Streiks sind nach einem neuen Gesetz so gut wie unmöglich. Formell dürfen wir zwar streiken, müssen aber die Betreuung der Schülerinnen und Schüler sowie 50 Prozent der Lehrstunden garantieren, ebenso sämtliche Abiturfächer – und das komplett. Wir verlangen mehr Geld und weniger Arbeitsstunden. Offiziell arbeiten die meisten Lehrkräfte 24 bis 26 Unterrichtsstunden in der Woche. Es fallen aber auch regelmäßig unbezahlte Überstunden an – oft bis zu 6 Stunden pro Woche. Hinzu kommen noch Unterrichtsvorbereitung und Besprechungen.

  • E&W: Früher konnten die Lehrkräfte über die Angelegenheiten ihrer Schule mitentscheiden. Wie ist es heute um Mitbestimmungsrechte bestellt?

Kamrás: Die Mitbestimmungsmöglichkeiten sind komplett weggefallen. Früher waren die Schulen den Kommunen unterstellt. Da konnten die Beschäftigten die Leiterin bzw. den Leiter der Schule mitbestimmen. Heute entscheidet das Ministerium. Wobei ich hinzufügen muss, dass wir kein Bildungsministerium haben. Bildung wird aus dem Innenministerium heraus gemanagt.

  • E&W: Welche Folgen hat das für Lehrpläne und Lehrinhalte?

Kamrás: Orbán versucht, die Bildungsinhalte seinen politischen Interessen anzupassen. So sollen die Schulen künftig mehr Patriotismus unterrichten. Da verschwimmen schon mal Fakten mit Legenden und Sagen. Sexualkunde dürfen nur noch Menschen unterrichten, die auf einer Regierungsliste stehen. Ein anderes Gesetz untersagt die Darstellung von Homo- und Transsexualität in Lehrplänen, Büchern und Filmen. Wer Jugendlichen das Leben der alten Griechen näherbringen will, steht da schnell auf der schwarzen Liste.

  • E&W: Welche Unterstützung erwarten Sie von der Bildungsinternationale, der Internationalen Arbeitsorganisation ILO der UN und der Europäischen Union?

Kamrás: Im Moment klagen wir uns wegen des Streikrechts durch die nationalen Gerichtsinstanzen. Werden uns dort unsere Rechte nicht zuerkannt, gehen wir nach Straßburg. An die Bildungsinternationale haben wir gerade eine Erklärung weitergeleitet. Wir hoffen, dass ihre Vertreter die Gelegenheit bekommen, unsere Erklärung im Rahmen der UN-Vollversammlung vorzutragen.