Zum Inhalt springen

GEW legt Eckpunkte vor: Mit, nicht gegen die Beschäftigten

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist seit März 2009 für Deutschland verbindlich. In Artikel 24 verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten ohne Wenn und Aber, ein inklusives Bildungssystem zu realisieren. Seitdem hat eine engagierte Diskussion in- und außerhalb der GEW über Strategien der Umsetzung begonnen (s. E&W 3/, 4/, 5/ und 6/2009). Nun legt die Bildungsgewerkschaft Eckpunkte für einen Transformationsprozess vor.

Die GEW hat – zuletzt auf ihrem Gewerkschaftstag Ende April in Nürnberg – die Konvention mit Nachdruck begrüßt, steht diese doch in völliger Übereinstimmung mit ihrer langjährigen Forderung nach „Einer Schule für alle“ (und nicht für fast alle).

Für die Bundesregierung hat der zuständige Arbeits- und Sozialminister Olaf Scholz (SPD) auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass alle Verantwortungs- und Zuständigkeitsebenen über Bund, Länder und Kommunen bis hin zu den Bildungseinrichtungen gesamtstaatliche Verantwortung übernehmen und sich auf eine Gesamtstrategie samt Aktionsplan einigen müssen. Auch die Kultusministerkonferenz (KMK) hat nach anfänglichen Übersetzungs- und Interpretationskunststücken (s. E&W 3/2009, S. 15) den „Ernst der Lage“ erfasst und eine Arbeitsgruppe mit dem Ziel initiiert, die „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung“ von 1994 an die neue Situation anzupassen.

Heftige Gefühle

Veränderungsprozesse rufen in der Regel heftige und widersprüchliche Gefühle bei den Betroffenen hervor. Bei der bevorstehenden tiefgreifenden Transformation des Schulsystems ist dies nicht anders. Während viele Eltern hoffen, ihre behinderten Kinder mit dem Rückenwind der UN-Konvention jetzt endlich in einer wohnortnahen allgemeinen Schule unterbringen zu können, sind viele in der GEW organisierte sonderpädagogische Lehrkräfte, die derzeit mit Engagement und Herzblut an Sonder-/Förderschulen arbeiten, von Ängsten geplagt. Sie fühlen sich in ihrer Professionalität entwertet, fürchten um ihren gewohnten, teilweise hervorragend eingerichteten Arbeitsplatz, haben die Sorge, als „mobile Eingreiftruppe“ über Land geschickt zu werden. Außerdem stehen sie pädagogisch auf schwankendem Boden. Denn wissenschaftliche Erkenntnisse widersprechen seit Jahren der dem Sonderschulwesen zugrunde liegenden These, wonach das separate Unterrichten von Gruppen mit ähnlichen oder denselben Behinderungen einen besonders hohen Fördereffekt habe. Vieles spricht sogar dafür, dass das Gegenteil der Fall ist.

Schmerzliche Erkenntnis

Nicht nur die Sonderpädagogen – alle Lehrergruppen in Deutschland – müssen sich derzeit mit der für sie schmerzlichen Erkenntnis auseinandersetzen, dass homogene Lerngruppen kein Garant für Leistung und schon gar nicht für gleiche Bildungschancen sind. Vor allem die PISA-Studien haben z. B. den Lehrkräften an Hauptschulen gezeigt, dass all ihr Engagement nicht die Nachteile aufwiegen kann, die das Zusammenballen von Problemen und Frus­tration in dieser Schulform mit sich bringen. Auch die Gymnasiallehrerschaft müsste sich dringend mit der Frage auseinandersetzen, warum die Schulleis­tungen ihrer positiv ausgelesenen Schülerschaft keine internationalen Spitzenwerte erreichen. Denn von Pädagoginnen und Pädagogen in Deutschland wird zunehmend verlangt, sich ausschließlich mit ihren Schülerinnen und Schülern zu identifizieren, nicht jedoch mit „ihrer“ Schulart. Für Schulleitungen ist das besonders schwer, können doch mit einer Schließung „ihrer“ Schule der Verlust von Ansehen, Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten verbunden sein.

So verständlich solche Ängste und Vorbehalte sind – von denen der Lehrkräfte an den allgemeinen Schulen ist derzeit noch recht wenig die Rede –, sie können die GEW nicht daran hindern, den Weg zu einem inklusiven Schulsys­tem konsequent und beherzt zu unterstützen. Klar ist jedoch, dass dieser schwierige Prozess nur mit den Beschäftigten, nicht gegen sie zum Erfolg führen kann. Eine wesentliche Aufgabe der Bildungsgewerkschaft besteht deshalb darin, die Interessen der Beschäftigten zu achten und sich für ihre Beteiligung an allen wichtigen Entscheidungen stark zu machen. Von den Bundesländern erwartet die GEW Zeit- und Ressourcenpläne für die Transformation des Schulsys­tems. Entsprechend dem Beschluss des Gewerkschaftstages haben dabei die folgenden Eckpunkte zentrale Bedeutung:

Eindeutiger – gesetzlich verankerter – Vorrang des Gemeinsamen Unterrichts (GU). Jedes Kind und jeder Jugendlicher hat einen gesetzlichen Anspruch auf gemeinsamen Unterricht in einer wohnortnahen Schule. Haushaltsvorbehalte, sächlich oder personell, dürfen dieses Recht nicht einschränken. Der Schulträger hat dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Auch ist er verpflichtet, einen Zeitplan vorzulegen, aus dem hervorgeht, ab wann der Rechtsanspruch umgesetzt werden soll und bis wann rechtswidrige, weil getrennte Beschulung noch bestehen bleibt. Ausreichende sonder-, sozialpädagogische und pflegerische Ressourcenzuteilung an den Regelschulen. Beseitigung aller schulstrukturell bedingten Hindernisse. Das bedeutet, zielgleichen sowie differenten Unterricht nicht nur in der Grundschule, sondern auch in allen Schulformen und stufen der Sekundarstufe I/II zu ermöglichen und mittelfristig eine vollständig inklusive Schule ohne Selektion anzubieten. Barrierefreiheit in allen allgemein bildenden Schulen. Klar geregelter Nachteilsausgleich bei Prüfungen und Klassenarbeiten. Inklusions-/Integrationsfähigkeit von Regelschulen als vorrangiges Qualitätsmerkmal bei der Qualitätsüberprüfung und -beratung. Regelmäßige wissenschaftliche Gutachten über die Qualität (und hiermit ist ausdrücklich auch die Qualität der Arbeits- und Lernbedingungen, der sächlichen und personellen Ausstattung in den Schulen gemeint) des Gemeinsamen Unterrichts in den Ländern. Diese Gutachten sollen der Öffentlichkeit zugänglich sein. Gezielte Aus- und Fortbildungsangebote für Regel- und Förderschullehrkräfte in Integrations-/ Inklusionspädagogik.