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Gesundheitsschutz in Bildungseinrichtungen

Gesundheit gibt es nicht zum Nulltarif

Erschöpfung, Kopfschmerzen, Nervosität, Reizbarkeit und Schlafstörungen. Die Symptome, unter denen Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher leiden, sind vielfältig. Fast jede bzw. jeder Dritte klagte schon einmal über Burnout. Was tun?

Erzieherin in der Kita: Qualifizierte Arbeit ist unverzichtbar. (Foto: GEW)

Der Fachbereichsleiter Bildungseinrichtungen bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) Heinz Hundeloh erklärt, was sich ändern müsste. 

  • E&W: Wo lauern in Bildungseinrichtungen wie Schulen und Kitas die größten Gesundheitsgefahren für die Beschäftigten?

Heinz Hundeloh: Die größten Gefahren gehen nicht von Unfällen aus. Das Hauptproblem bei Lehrkräften, Erzieherinnen, Erziehern, Schülerinnen und Schülern ist die psychische Gesundheit.

  • E&W: Was sind die Ursachen?

Hundeloh: Zunächst einmal sind strukturelle Faktoren wie der fehlende Arbeitsplatz in der Schule, möglicherweise ausbleibender Erfolg bei der Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrages sowie der offene Arbeitsauftrag zu nennen. Insbesondere Lehrkräfte können eigentlich nie richtig abschalten, sich nicht zurückziehen. Sie transportieren ihren Beruf täglich mit ins Private. Sie korrigieren zu Hause Arbeiten, führen Telefonate mit Eltern, bereiten Unterricht vor. Es bedarf schon eines sehr guten Selbstmanagements und entsprechender Selbstdisziplin, um da eine klare Trennung herbeizuführen und ohne schlechtes Gewissen die Arbeit zu beenden. Mit einem Arbeitsplatz in der Schule könnten sie sagen: Bis 17 Uhr, dann ist Feierabend. Wir plädieren deshalb für den Arbeitsplatz in der Einrichtung, wissend, dass er zu einer besseren Kooperation des Personals untereinander führen kann. Kooperation wirkt letztendlich entlastend, verbessert das Sozialklima und fördert am Ende die Gesundheit.

  • E&W: Wenn das bekannt ist, warum passiert, obwohl beispielsweise auch die GEW es seit Jahren fordert, nichts oder zumindest zu wenig?

Hundeloh: Vielleicht, weil es Geld kostet. Bildungseinrichtungen müssen in die Lage versetzt werden, Zeit und Raum für Kooperationen zu öffnen. Das erfordert entsprechende Investitionen. Gesundheit gibt es nicht zum Nulltarif.

  • E&W: Eine Frage der Haltung?

Hundeloh: Das Thema Gesundheit ist vielfach nicht in den Köpfen. Weder bei den Politikern noch bei den Betroffenen, die oft nur spüren, dass es ihnen nicht gut geht. Wir brauchen eine Art Denkfilter „Gesundheit“. Durch ihn sollten alle Entscheidungen fließen, gepaart mit der Frage, welche Auswirkung sie haben. Das gilt zum Beispiel für den offenen Bildungsauftrag. Hat die Gesellschaft ein Problem, sollen es die Bildungseinrichtungen lösen. Dabei müsste aber gefragt werden, ist das wirklich ihre Aufgabe, muss ihnen das auch noch aufgebürdet werden? Wir plädieren für eine klare Beschreibung der Kernaufgaben. Der Denkfilter gilt aber ganz besonders auch für die Schulleitung. Gesundheit muss zum Gegenstand von Führung werden. Zu beschließen, dass die Wände blau gestrichen werden, weil ich die Farbe mag, ist das eine. Zu fragen, was die Farbe bei den Beschäftigten, aber auch Kindern und Jugendlichen bewirkt, das andere. Das wäre gelebte Präventionskultur.

  • E&W: Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Hundeloh: Weder beim Thema Inklusion noch bei der Einführung von G8 wurde jemals die Frage gestellt, welche Auswirkung das auf das Personal hat. Und wenn ich von Personal rede, schließe ich alle an Bildungseinrichtungen Tätigen ein – auch die Ehrenamtlichen, Sozialarbeiterinnen und -arbeiter sowie die Hausmeister und Schulverwaltungskräfte. Einfach alle. Oder nehmen wir die Digitalisierung. Alle reden von der notwendigen Technik. Niemand aber bringt den Arbeitsschutz, die Gesundheit und Sicherheit der Beschäftigten und der Schülerschaft ins Spiel. Es wird nicht geprüft, ob lange Tätigkeit am digitalen Medium ergonomisch schädlich ist. Es wird nicht gefragt, wie groß die Schrift am PC oder das Licht sein sollte. Dabei wissen wir doch alle, dass Gesundheit Auswirkungen auf die Bildung hat und umgekehrt. So zeigen die Studien von Klusmann und Kollegen, dass gesunde Lehrkräfte in der Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler besser unterrichten als Lehrkräfte, deren Gesundheit beeinträchtigt und angegriffen ist. Und nach einer Studie von Harazd ist die Unterrichtsqualität einer Schule umso höher, je weniger sich das Kollegium der Schule belastet fühlt.

  • E&W: Was aber tun, wenn sich zum Beispiel ein Schüler verweigert, für die Methoden der Lehrkraft nicht empfänglich ist, der Lärmpegel ständig steigt?

Hundeloh: Ob ich als jemand, der in einer Bildungseinrichtung arbeitet, erfolgreich bin, hängt in der Tat vom Miteinander ab. Ich vergleiche das gerne mit dem Schreiner. Er kann in Ruhe das Stück Holz bearbeiten. Es wehrt sich nicht. Menschen aber schon. Und da kommt natürlich der Blick auf die eigene Persönlichkeit ins Spiel.

  • E&W: Inwiefern?

Hundeloh: Ich muss bereit sein, über mein eigenes Tun zu reflektieren und gegebenenfalls aus eingefahrenen Strukturen auszubrechen. Das kostet Kraft und Mut, ist anstrengend. Ich muss mich öffnen, vielleicht auch einmal den Kollegen fragen: Warum läuft dies und jenes bei mir falsch? Leider sind die meisten Schulen immer noch Orte der verschlossenen Türen, auch wenn es einige gute Gegenbeispiele gibt. In Zusammenarbeit mit den anderen kann ich gemeinsam Unterricht planen und durchführen, Methoden für ruhigeren und spannenden Unterricht, für selbstgesteuertes Lernen entwickeln. Mit anderen Worten: Es nutzt nicht sehr viel, wenn ich an der Bildungseinrichtung einen eigenen Arbeitsplatz besitze, aber nicht kommuniziere und kooperiere, sprich mein Verhalten ändere.

  • E&W: Der ein oder andere wird jetzt aufstöhnen: „Wir sind also selbst schuld, wenn es uns schlecht geht.“

Hundeloh: Einen Missstand wie die Gesundheitsgefährdung kann man nur beseitigen oder verringern, wenn sich Verhältnisse und Verhaltensweisen ändern. Dazu gehören der Staat als Dienstherr, etwa durch die Bereitstellung des notwendigen Personals und vor allem Qualifizierung und Unterstützung, die Schulträger, etwa bei der Ausstattung der Schulen, aber natürlich auch jeder einzelne in der Verantwortung für andere und sich selbst.

  • E&W: Wie optimistisch sind Sie, dass sich etwas zum Besseren wendet?

Hundeloh: Wenn alle Verantwortlichen in den Bildungseinrichtungen lernen, das Thema Gesundheit als unverzichtbar und nicht als Add-on zu betrachten, gibt es eine Chance.

Was sagen die Beschäftigten?

  • Theresa Vater, Lehrerin Deutsch und Sport an der Reinhold-Burger-Schule, Berlin

„Nach meinem Referendariat kam ich 2016 an die Schule. Wenn ich mit älteren Lehrkräften spreche, höre ich oft: Die pädagogische Arbeit ist umfangreicher, anstrengender geworden. Elternarbeit und sozialpädagogische Aufgaben werden wichtiger, Bildungsarbeit tritt häufiger in den Hintergrund. Etwa 20 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler leiden unter psychischen Problemen wie Depressionen, autoaggressivem Verhalten, fluchtbezogenen Traumata. Wir müssen das systematisch und individuell auffangen: Steht das Kind einen normalen Schultag durch? Wie können wir es optimal unterstützen? Was tun bei häuslicher Gewalt? Das belastet emotional.

Hinzu kommen strukturelle Belastungen. Die Abstimmung mit schulpsychologischem Dienst oder Jugendamt kostet viel Zeit. Manche Kinder leben zu Hause, andere in Wohngruppen, in Krisenunterkünften, in Einrichtungen der Jugendhilfe. Terminfindung, Koordination und pädagogische Gespräche mit wechselnden Ansprechpartnern sind extrem aufwändig.

Um den Alltag trotzdem zu bewältigen, arbeiten wir in Klassenleiterteams. Jeden Montag vor Schulbeginn treffen sich die Jahrgangsteams freiwillig zur Beratung. Alle zwei Wochen setzen sich Fachbereichs- und Jahrgangsleiter zusammen, es gibt jahrgangsübergreifende Kooperation und einmal im Vierteljahr strukturierte Bilanzgespräche mit Eltern und Kindern. 40-Stunden-Woche? Habe ich noch nie gehabt. Aber egal, wo wir zu streichen versuchen – wir kommen im Kollegium immer zum Schluss, dass es letztlich mehr Stress erzeugt, wenn wir unsere Kooperationsstrukturen abspecken. Und: Die Arbeit mit den Kindern macht unheimlich Spaß.“

  • Soncan Somji, schulischer Sozialarbeiter an der Integrierten Gesamtschule (IGS) Hannover Linden

„Wir sind drei Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter für 1.300 Schülerinnen und Schüler, das ist einfach zu wenig. Ich habe mindestens 18 bis 20 Beratungsgespräche pro Woche, dazu kommen Betreuung im Freizeitbereich und externe Diensttermine. Früher hatten fast nur Jugendliche aus der Sekundarstufe I Beratungsbedarf. Seit drei, vier Jahren kommen auch Oberstufenschüler. Viele haben psychische Erkrankungen, fragen sich, ob sie weitermachen oder abbrechen sollen. Auch Mobbing über Social Media hat sehr zugenommen, viele Fälle landen bei uns.

Die IGS hat sich hier sehr verändert. Ich liebe meine Arbeit, aber manchmal schlaucht es schon. Man kann nach Dienstschluss nicht einfach abschalten, die Probleme der Kinder nehme ich mit nach Hause. Wir haben ja Schweigepflicht, wenn wir uns auch im Team gegenseitig so gut wie möglich – anonymisiert – unterstützen. Am Wochenende beschäftigt mich oft: Wie kann ich dem Jugendlichen helfen? Gerade wenn es um Gewalt in der Familie geht, muss man immer wieder neu abwägen: Muss ich die Behörden informieren, weil das Kindeswohl gefährdet ist? Wie kann ich die Eltern erreichen? Ich merke den Stress an Kleinigkeiten. Vor ein paar Jahren noch hatte ich jeden Termin im Kopf. Heute muss ich mir alles aufschreiben, immer häufiger vergesse ich trotzdem Dinge.“

  • Carolin Schneider, Lehramtsstudentin, 3. Semester, Englisch, Mathe, Schwedisch, Universität Greifswald

„In allen Fachwissenschaften müssen wir die gleiche Menge Stoff bewältigen wie Bachelor-Studierende. Aber bei uns kommen noch Fachdidaktik und Erziehungswissenschaften dazu. Das ist kaum zu schaffen. Erst recht, wenn man ein Drittfach gewählt hat. Ich muss in Schwedisch 105 Leistungspunkte erwerben, nur 15 weniger als in den Hauptfächern. Im Sprachstudium sind zudem drei Monate im Ausland Pflicht, Lehramtsstudierende müssen drei Schulpraktika machen. Genug Plätze gibt es dafür nicht, schon gar nicht im Semester. Also bleiben oft nur die Semesterferien.

Ein weiterer Stressfaktor sind die überfüllten Kurse. Wir Studierenden sitzen dann in der Anmeldephase um 24 Uhr am Laptop, um einen Kursplatz zu ergattern. Wenn nicht – Pech gehabt.

Am Wochenende muss ich immer Mathe-Hausaufgaben machen. Auch sonst sitze ich abends oft am Schreibtisch. Ich habe 30 Wochenstunden Präsenzveranstaltungen. Nach den Studienempfehlungen soll ich im Selbststudium noch mal doppelt so viel drauflegen. Aber wann? Auf meinen Sport, Handball, verzichte ich trotzdem nicht, ich schlafe halt was weniger. Mein Engagement in der Fachschaft hilft mir, das Studium durchzustehen – hier habe ich Freunde und kann mich mit erfahrenen Kommilitoninnen und Kommilitonen austauschen.“

  • Elisabeth Krautt, Leiterin der städtischen bilingualen Kindertagesstätte Karlsruhe-Grötzingen

„Die größte Belastung für uns ist, wenn Eltern ihre Kinder krank in die Kita bringen. Postwendend erfasst die Krankheitswelle auch die Fachkräfte. Zwischen November und Ende Februar fehlt meist fast ein Drittel der Belegschaft. Weil die übrigen dann mehr zu tun haben, werden sie schneller krank, ein Teufelskreis. Wenn viele Springer eingesetzt werden müssen, bringt das Unruhe in die Gruppen. Auf Dauer bricht die Gruppendynamik zusammen. Das ist sehr belastend für alle.

Dazu kommt der Lärm im Kita-Alltag. Bauklötzchentürme stürzen um, Stühle werden gerückt. Besonders anstrengend ist der Lärm für unsere Inklusionskinder. Viele reagieren aggressiv, wenn es zu laut wird. Das schaukelt sich richtig hoch. Zum Glück hat der Träger schon beim Neubau der Kita Maßnahmen zur Geräuschdämmung umgesetzt.

Wir selbst haben unseren Alltag umgestellt. Früher waren bis zu 20 Kinder in einem Raum, heute ist das nicht denkbar. Die Mädchen und Jungen sind selbstbewusster geworden, diskutieren und streiten mehr. Jetzt sind maximal acht bis 15 Kinder zusammen, sie verteilen sich nach Interesse auf Bildungsbereiche, in denen experimentiert oder kreativ gearbeitet wird. Wir essen in zwei Gruppen, sodass auch leise Tischgespräche möglich sind. Trotzdem klagen viele Fachkräfte über Migräne und Rückenprobleme. Die Arbeit geht einfach auf den Rücken.

Außerdem fehlt bei Personalengpässen Zeit für Vorbereitung und Konzeption. Manchmal fühlen sich die Fachkräfte dann eher als Aufpasser, denn als Bildungsbegleiter. Das stresst erst recht.“

Foto: Unfallkasse NRW