Seit einigen Jahren beschäftigt sich die GEW mit der Frage, wie sich ehemalige Funktionäre während des Nationalsozialismus verhalten haben. In Hamburg entzündete sich zuerst ein Konflikt um das 1935 von der Gesellschaft der Freunde (Abteilung Wirtschaft und Recht im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB)) erworbene Haus Rothenbaumchausse 19. Gestritten wurde darüber, ob der Kauf von einer jüdischen Erbengemeinschaft als Arisierung zu werten sei oder die Abteilung Wirtschaft und Recht als eine Art Nachfolgeorganisation der 1933 im NSLB aufgegangenen Gesellschaft der Freunde der Vaterländischen Erziehung (GdF) noch bis 1937 eigenständig agiert habe. Mit dem Verkauf des Hauses an den jüdischen Bildungsverein Chabad Lubawitsch Anfang 2013 schien dieser Konflikt beigelegt. Allerdings rückte bald darauf der ehemalige GdF-Repräsentant und nach dem Krieg erste Vorsitzende der GEW, Max Traeger, in einen kritischen Fokus – hatte Traeger sich bereitwillig den Nationalsozialisten angedient oder versuchte er, mit anderen ehemaligen GdF-Funktionären, zumindest im kleinen Kreise seine Ablehnung aufrechtzuerhalten? In der GEW sind diese Auseinandersetzungen mit großer Schärfe und der Tendenz zur Lagerbildung geführt worden, bis hin zu der Forderung der Studierenden und der GEW Hessen, die Max-Traeger-Stiftung der GEW umzubenennen.
Es geht aber nicht allein um Max Traeger, sondern um die nationalsozialistische Belastungsgeschichte der Bundesrepublik. Gingen die berufsständischen Lehrerverbände 1933 freiwillig oder unter Zwang im nationalsozialistischen Lehrerbund auf? Und wie wurde nach dem Krieg in der GEW über Anpassung und Begeisterung für den Nationalsozialismus gesprochen? Der GEW-Hauptvorstand und der Landesverband Hamburg haben sich entschlossen, diesen Fragen mit Unterstützung von mehreren historischen Forschungsprojekten nachzugehen. Den mit Spannung erwarteten Ergebnissen können und wollen wir hier nicht vorgreifen, zumal auch für viele Vorgängerorganisationen der GEW und ihr Verhalten 1933 noch historische Grundlagenarbeit geleistet werden muss. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht sind die Initiativen der GEW daher zu begrüßen.
Wir möchten den gesellschaftspolitischen Kontext der erinnerungspolitischen Debatten nachzeichnen. Denn Auseinandersetzungen über nationalsozialistische Verstrickungen und Beteiligungen von Akteuren staatlicher Einrichtungen und Organisationen in der Bundesrepublik haben in den vergangenen Jahren zugenommen, entgegen mancher Befürchtungen Anfang der 1990er-Jahre, die nationalsozialistische Geschichte werde in den Hintergrund gedrängt.
Spektakulär war der erinnerungspolitische Sturz des ersten Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Hinrich Wilhelm Kopf (SPD), der im besetzten Polen am Raub von jüdischem Besitz beteiligt war.
Die bundesdeutsche Gesellschaft hüllte sich in den ersten beiden Jahrzehnten weitgehend in Schweigen über die Beteiligung so vieler an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Seit den 1960er-Jahren – Stichworte sind der Frankfurter Auschwitz-Prozess, die Verjährungsdebatten und die offensive Kritik am Verschweigen und Weichzeichnen NS-belasteter biographischer Kontinuitäten im Umfeld von 1968 – nahmen Auseinandersetzungen um die nationalsozialistische Vergangenheit jedoch zu. Seit den späten 1970er-Jahren waren es zivilgesellschaftliche Akteure und Initiativen, die im lokalen Rahmen alltagsgeschichtliche Fragen aufwarfen. Der Schüler-„Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“, der 1980/81 das Thema „Alltag im Dritten Reich“ in den Mittelpunkt stellte, hat lokale Erinnerungskonflikte mit ausgelöst, viele der heutigen Gedenkstätten und Erinnerungsorte entstanden in den 1980er-Jahren. Es begannen nun auch Auseinandersetzungen um die NS-Belastung einzelner Berufsgruppen und Branchen, so in der Ärzteschaft, die vor allem durch die Beteiligung an Euthanasiemorden besonders belastet war, aber auch bei Historikern Ende der 1990er-Jahre.
Zudem war bald eine neue Auftragsforschung zu beobachten, die zuerst von Unternehmen initiiert wurde, die sich mit der Frage nach der Entschädigung für Zwangsarbeit auseinanderzusetzen hatten. Eine Konjunktur zeithistorischer Untersuchungen staatlicher Einrichtungen löste schließlich die Studie „Das Amt“ über die personellen Kontinuitäten des Auswärtigen Amtes aus, die 2010 von einer Unabhängigen Historikerkommission vorgelegt wurde. Danach folgten Studien über eine Reihe weiterer Ministerien und Behörden, darunter der Geheimdienste. Parallel zu dieser Welle von Auftragsforschungen folgten Untersuchungen über personelle Kontinuitäten in Landtagen. Bisher wurden zu Hessen, Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein sehr umfangreiche biographische Studien vorgelegt, in denen sich eine erschreckend hohe Zahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder bei den Landtagsabgeordneten bis in die 1970er-Jahre zeigte.
Nicht alle Untersuchungen fanden die gleiche mediale Aufmerksamkeit, aber alle waren verbunden mit Diskussionen über belastete Personen. Sicherlich war bekannt, dass in vielen staatlichen Einrichtungen ehemalige Nationalsozialisten aktiv waren, die Kontinuität der Funktionseliten gehört zum Kennzeichen bundesdeutscher Geschichte. Gleichwohl gab es bis in die jüngste Zeit immer wieder überraschende Entdeckungen. Spektakulär war der erinnerungspolitische Sturz des ersten Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Hinrich Wilhelm Kopf (SPD), der im besetzten Polen am Raub von jüdischem Besitz beteiligt war. 2015 beschloss der niedersächsische Landtag, Kopf als nicht mehr ehrungswürdig einzustufen, der Platz vor dem Landtag wurde umbenannt.
Die erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen um Namensehrungen haben in den vergangenen Jahren an Intensität zugenommen.
Kopf steht für ein erinnerungspolitisches Konfliktfeld, das heute unter dem Begriff „Ehrregime“ (Dietmar von Reeken/Malte Thießen) in der Forschung verhandelt wird. Bereits seit den 1980er-Jahren wurde immer wieder über einzelne Namenspaten für Straßen oder Ehrenbürgerschaften gestritten, die als NS-belastet galten. Inzwischen haben mehrere Kommunen, so Oldenburg/Niedersachsen, Freiburg oder Hamburg, umfangreiche Studien über die mit Personennamen versehenen Straßen unternommen oder beauftragt. In den intensiven lokalpolitischen Auseinandersetzungen zeigt sich immer wieder ein Ringen um erinnerungspolitische Verantwortung – sollen die Wünsche der Anwohner im Vordergrund stehen, alte Straßennamen beizubehalten, sollte die Benennung durch ergänzende Hinweise als zeithistorisches Element kommentiert oder sollten Menschen, die belastet waren, die Ehrung durch eine Straßenbenennung verlieren?
Dabei geht es nur in wenigen Fällen um direkte Beteiligung an Verbrechen. In Oldenburg wurde 2015 die Hedwig-Heyl-Straße umbenannt, da die Frauenrechtlerin Heyl, die 1934 starb, mit ihren rassistischen Vorstellungen und ihrer Begeisterung für Hitler für den Stadtrat nicht mehr tragbar war. Hingegen blieb der militaristische Reichspräsident Paul von Hindenburg, der Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte, dort wie in zahllosen anderen Kommunen ein umkämpfter Namensgeber. Die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft verleiht seit 2013 nicht mehr den Theodor-Eschenburg-Preis, da der Namensgeber in der Vereinigung aufgrund seiner Aktivitäten im Nationalsozialismus als nicht mehr tragbar galt. Begründet wurde die Entscheidung mit der fehlenden Integrationskraft des Preises, dessen Namensgeber erbitterte Debatten auslöste.
Die erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen um Namensehrungen haben in den vergangenen Jahren an Intensität zugenommen. Warum? Immer wieder wird das Abtreten der Generation genannt, die im Nationalsozialismus Funktionen ausübte. Staatliche Einrichtungen wie das Auswärtige Amt, die eine große Anzahl belasteter Personen in den Anfangsjahren hatten, müssen sich nicht mehr mit den Akteuren selbst auseinandersetzen. Dies erleichtert gewissermaßen die scharfe Verurteilung. Auch dürfte die öffentliche Reputation eine wichtige Rolle spielen – bei Unternehmen, aber auch bei Ministerien oder Kommunen, die sich nicht dem Verdacht aussetzen möchten, belastete Personen als Traditionsstifter zu haben. Hinzu kommt, dass Belastungen heute eher gesehen werden als in früheren Jahren, als die Öffentlichkeit erheblich mehr Verständnis für Anpassung und Opportunismus zeigte als heute. Nach 70 Jahren Demokratieerfahrung wird das Handeln von Menschen in einer Diktatur heute oft anders bewertet und weniger entschuldigt.
Historikerinnen und Historiker können nicht die Rolle von Richtern übernehmen, sie können aus den Quellen Einordnungen und Bewertungen vornehmen und damit Grundlagen für eine seriöse Diskussion schaffen.
Historische Expertise wird oft angefragt, um Biographien einordnen zu können. Dabei zeigt sich immer wieder, dass der hohe Differenzierungsgrad wissenschaftlicher Argumentationen in der Öffentlichkeit oft nur schwer zu vermitteln ist, da Skandalisierungen mehr Aufmerksamkeit erhalten. Historikerinnen und Historiker können nicht die Rolle von Richtern übernehmen, sie können aus den Quellen Einordnungen und Bewertungen vornehmen und damit Grundlagen für eine seriöse Diskussion schaffen. Sie sind damit zwar auch Akteure in den Auseinandersetzungen, aber nicht die Entscheider in gesellschaftspolitischen Debatten. Welches Ehrregime und welche Tradition gewünscht ist, wird in politischen Gremien und in der geschichtspolitischen Öffentlichkeit verhandelt und entschieden. Hierbei sollten Diskussionen und Entscheidungen transparent und sachlich geführt werden, denn dieses Land braucht keine Heldenverehrung oder -verdammnis, sondern nüchterne Aufklärung.