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Mangel an Lehrkräften

„Geschichte muss dort unterrichtet werden, wo sie passiert ist“

Gedenkstätten-Arbeit verändert sich – muss sich verändern. Ein deutsch-französisches Lehrkräfte-Fortbildungsprojekt zeigt am Beispiel des früheren Konzentrationslagers (KZ) Natzweiler-Struthof, wie das aussehen kann.

Ein eisiger Wind weht über die Nordseite des Hochplateaus in den elsässischen Vogesen. Auf dem Parkplatz des einstigen KZ Natzweiler-Struthof stehen bereits einige Busse. Heute sind kaum Einzelgäste hier, dafür viele Schulklassen, vor allem aus dem nahen Südwesten der Bundesrepublik. Der Audio-Guide, den die freundliche Frau an der Kasse aushändigt, ist sechssprachig. Beim Rundgang über das weitläufige Gelände mit den langgestreckten Häftlingsbaracken ist er fast unerlässlich. Durch den Kopfhörer, abgeschirmt von den Geräuschen der Außenwelt, wirkt das Grauen im Lageralltag noch unmittelbarer. Als eine Schülergruppe aus der Pfalz an einer der unteren Baracken angekommen ist, ersterben auch die leisesten Gespräche. Nachdem sie den Ofen des Krematoriums erblickt hat, greift ein Mädchen nach dem Arm seiner Freundin, dann weint es hemmungslos.

„Geschichte muss dort unterrichtet werden, wo sie passiert ist“, sagt Tobias Markowitsch, der ebenfalls seit vielen Jahren mit seinen Schulklassen nach Natzweiler-Struthof fährt. Der Karlsruher Geschichtslehrer ist zweiter Vorsitzender des „Verbundes der Gedenkstätten im ehemaligen KZ-Komplex Natzweiler“ (VGKN), eines deutsch-französischen Gedenkstätten-Programms, das 2018 mit dem Europäischen Kulturerbe-Siegel ausgezeichnet wurde. „Viele Lehrkräfte haben sich in den vergangenen Jahrzehnten mit Zeitzeugen zu deren Lebzeiten befasst“, sagt er. „Nun müssen wir zu Zeitzeugen werden und weitergeben, was diesen widerfahren ist.“

Die Lehrkräfte sind indes nicht nur aus ideellen Gründen stärker gefordert als in einer deutschen Gedenkstätte. Denn die eigentliche Lagerausstellung ist in die Jahre gekommen und ebenso wie die Führungen fast ausschließlich auf Französisch. Auch deshalb müssen die Lehrkräfte viele Inhalte selbst erarbeiten. Und das tun sie: Seit 2020 gibt es ein bilinguales deutsch-französisches Lehrerfortbildungsprogramm. Das sei ein voller Erfolg, meint Markowitsch – obwohl sich die Schulsysteme und die pädagogische Kultur unterscheiden. „Wir sind schülerzentrierter, während in Frankreich im Unterricht noch die klassische Wissensvermittlung im Vordergrund steht.“

Verspätete Aufarbeitung in beiden Ländern

Das 1941 errichtete Arbeitslager Natzweiler-Struthof war Teil des NS-Systems, das die absichtliche oder billigend in Kauf genommene Tötung von Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern sowie Häftlingen in den Konzentrationslagern durch übermäßige Schwerstarbeit und mangelhafte Versorgung zum Ziel hatte; rund 22.000 Menschen wurden hier bis Kriegsende ermordet, starben an Krankheiten, Mangelernährung oder an den Spätfolgen der Haft. Anfangs mussten die Häftlinge rosa Granit für die von Albert Speer, Architekt und Minister für Rüstung und Kriegsproduktion in NS-Deutschland, geplanten Prachtbauten abbauen, später aus schwerem Gestein das Hauptlager errichten. Die wenigen Frauen, die hierhin deportiert wurden, ermordete die SS meist unmittelbar nach deren Ankunft. Zu trauriger Berühmtheit kam Natzweiler auch, weil Wissenschaftler der Reichsuniversität Straßburg hier grausame Menschenversuche durchführten.

Ab 1943 entstanden schließlich 55 Außenlager. 1944 wurde das Stammlager von der US-Armee befreit. Erst seit rund 30 Jahren dienen 16 Außenlager als Gedenkstätten. Noch in den 1990er-Jahren erforderte es Mut, die Geschichte der Außenlager aufzuarbeiten – zu groß waren die Widerstände vor Ort. Auch in Frankreich wurde die Mitschuld des mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regimes erst spät thematisiert: „Entscheidend war eine Rede von Präsident Jacques Chirac im Jahr 1995“, erläutert die an der Uni Bordeaux lehrende NS-Expertin Prof. Hélène Camarade. „In dieser hat er erstmals die Schuld an der Deportation der Juden eingestanden.“ Der Historiker Henry Rousso habe dann „bewiesen, dass Frankreich sich jahrzehntelang fast nur mit der Resistance, den Widerstandskämpfern gegen die Nazis, identifiziert hat. Vichy war tabu“.

Arbeit mit Unterrichtsmaterialien

Ortswechsel: Markowitsch und Cornelius Kückelhaus vom Gedenkstättenreferat der Landeszentrale für politische Bildung (LpB) Baden-Württemberg leiten heute im Karlsruher Generallandesarchiv eine Fortbildung, die in Zusammenarbeit mit dem „Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung“ organisiert wurde. Sie richtet sich an Lehrkräfte aller Schulformen, die mit ihren Klassen nach Natzweiler fahren wollen. Unter den 22 Teilnehmenden sind auch einige, die an bilingualen Gymnasien unterrichten. Kückelhaus teilt eine Broschüre der LpB aus, die den Gedenkstättenbesuch in 20 Stationen aufgliedert, an jeder davon finden sich pädagogisch-didaktische Tipps für die Lehrerinnen und Lehrer.

Derweil berichtet Markowitsch, dass er die Schülerinnen und Schüler am Bahnhof Rothau erstmals aus dem Bus steigen lässt und diese beiläufig fragt, wie ihre Fahrt gewesen sei. Dann erzählt er, dass von hier aus zentnerschwere Steine über sieben Kilometer bis ins auf 700 Meter Höhe gelegene KZ gefahren wurden – auf einer Straße, die die Häftlinge zuvor angelegt hatten. In der heutigen Gedenkstätte arbeiten die Schülerinnen und Schüler dann selbstständig mit den Unterrichtsmaterialien. Bewährt habe sich auch, den Klassen Häftlings-Biografien an die Hand zu geben und sie das Schicksal dieser Menschen recherchieren zu lassen. Zwei bis fünf Stunden setzt Markowitsch für die Vorbereitung an, zwei für die Nachbereitung. Im Bildungsplan sind insgesamt nur zwei Stunden vorgesehen. Markowitsch zuckt die Achseln. Das Thema sei zu wichtig, um es en passant abzuhandeln.

„Sie lernen, dass hier Menschen verhaftet und getötet wurden, die sich für demokratische und europäische Werte eingesetzt haben.“ (Christiane Rabe-Vogt)

So sieht es auch Christiane Rabe-Vogt. Die Referentin für grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Regierungspräsidium Karlsruhe betreut ebenfalls ein deutsch-französisches Gedenkstätten-Projekt. Ausgehend von der Beobachtung, dass auf beiden Seiten des Rheins Schülerinnen und Schüler die NS-Geschichte aufarbeiten, kam ihr ein im wahrsten Sinne des Wortes naheliegender Gedanke: „Warum machen wir es dann nicht gleich zusammen?“ Prädestiniert sind die „AbiBac“-Klassen, in denen sowohl in Frankreich als auch in Deutschland ein Weg zur Hochschulreife mit zweisprachigem Geschichtsunterricht beschritten werden kann. In bis zu vier deutsch-französischen Begegnungen erarbeiten sich die Jugendlichen die wesentlichen Inhalte – gefördert vom Regierungspräsidium. „Wie viele Stunden oder Tage dafür veranschlagt werden, ist zweitrangig“, sagt Rabe-Vogt. „Das ist aus unserer Sicht immer bildungsplankonform, zumal die Jugendlichen grenzüberschreitend, fächerübergreifend und handlungsorientiert lernen.“

Nachdem die Schülerinnen und Schüler nach einem interkulturellen Modul gemeinsam die Biografie eines KZ-Häftlings erarbeitet und entweder die Gedenkstätte Natzweiler-Struthof oder das Außenlager in Neckarelz besucht hätten, stelle sich stets der gleiche Effekt ein: „Sie lernen, dass hier Menschen verhaftet und getötet wurden, die sich für demokratische und europäische Werte eingesetzt haben.“ In einem dritten Modul geht der Blick nach vorne: „Dann wird darüber gesprochen, wie man sich für ein geeintes, demokratisches Europa engagieren kann.“ Denn das stehe für das genaue Gegenteil dessen, was alten und neuen Nazis als Gesellschaftsmodell vorschwebt.