Die GEW wird von ihren Partnergewerkschaften immer wieder zu Prozessbeobachtungen eingeladen. An dieser Stelle veröffentlicht die GEW die Protokolle der Verhandlungsstage vor dem Strafgerichtshof in Ankara, verfasst von Cetin Mogultay und Philipp Einfalt in ihrer Funktion als Prozessbeobachter des GEW-Hauptvorstands.
Der Anschlag
Anlass zu diesem Prozess ist ein am 10.Oktober 2015 in Ankara durch zwei Selbstmordattentäter verübter Anschlag auf eine von Gewerkschaften und anderen demokratischen Organisationen organisierte Großdemonstration. 101 Menschen starben, über 500 wurden verletzt - ein Massaker. Zwei mutmaßliche IS-Terroristen zündeten während der Kundgebung für Freiheit, Frieden und Demokratie ihre am Körper getragenen, maßgefertigten Sprengstoffwesten. Unter den Opfern und deren Hinterbliebenen befinden sich viele Gewerkschaftsmitglieder. Sieben aktive Mitglieder der türkischen Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen wurden in den Tod gerissen. Weitere Opfer hat KESK, der Dachverband der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, zu beklagen.
Zu der Kundgebung hatten neben Eğitim Sen und KESK auch der Dachverband von Gewerkschaften der progressiven Arbeiterschaft in der Türkei (DISK), der Verband der türkischen Ärzte (TTB), der Verbund der Kammer der türkischen Ingenieure und Architekten (TMMOB) und weitere demokratischer Organisationen und politische Parteien. Sie alle hatten ein einziges Ziel: Sie wollten, nachdem alle Gespräche, die Kurdenfrage friedlich zu lösen, einseitig von der türkischen Seite abgebrochen wurden, und gegen das kurdische Volk ein brutaler Krieg in Gang gesetzt worden war, ihre Stimme gegen den Gewalt erheben und für Frieden und für ein friedliches Miteinander der Völker ein Zeichen setzen. Nachdem hunderttausend Menschen aus allen Regionen der Türkei angereist waren und sich auf dem Bahnhofsvorplatz in Feststimmung getroffen hatten, gingen nach Angaben der Nebenkläger um 10:04 Uhr im Viersekundenabstand zwei Bomben hoch, die durch zwei Selbstmordattentäter gezündet wurden. Dieser Anschlag war der bisher blutigste Selbstmordanschlag in der Geschichte der Türkei.
Der Prozess
Der Prozessauftakt fand am 07.November 2016 statt. Nach einer Unterbrechung nahm die 4.Kammer des Landgerichts für schwerstwiegende Straftaten in Ankara die Prozessfortsetzung vom 06. - 08. Februar 2017 wieder auf. Neben den von der GEW mandatierten Mitgliedern Çetin Moğultay und Philipp Einfalt waren noch Holger Griebner, ver.di-Mitglied Walter Hofmann, ein IG-Metall-Mitglied, und zwei Rechtsanwälte aus Bremerhaven, Konrad Schäfer und Mathias Giese als Prozessbeobachter aus Deutschland angereist. Am 06.Februar 2017 trafen wir morgens um 9:30 Uhr die Angehörigen von Opfern und Verletzten des Anschlags, die sich in einem "Verein 10. Oktober -Frieden und Solidarität" zusammengeschlossen haben, sowie Vertreter*innen von demokratischen Organisationen, Rechtsanwält*innen, die Presse und einige Abgeordnete der HDP und CHP. In kurzen Redebeiträgen wurde auf die Bedeutung des Prozesses hinwiesen.
Vor dem von schwer bewaffneten Polizeikräften bewachten Gerichtsgebäude versammelten sich Überlebende und Hinterbliebene zu einer Kundgebung, auf der Plakate mit Fotos der getöteten Opfer hoch gehalten wurden. Nach mehreren Sicherheitskontrollen konnten wir das Gerichtsgebäude betreten. Gemeinsam mit weiteren 300-400 Menschen nahmen wir im Gerichtssaal Platz. Nach der Feststellung der Personalien der anwesenden Rechtsanwälte und Nebenkläger versuchten deren Anwälte mit einem mündlichen Antrag, ihre beiden Kollegen aus Bremerhaven als Beobachter ins Protokoll aufnehmen zu lassen, dies wurde vom Gericht mit der Begründung abgelehnt, dass die Strafprozessordung in diesem Zusammenhang keine Regelung vorsieht.
Im Kreuzverhör der Anwälte
Die Verhandlung begann mit der Vernehmung der Angeklagten Esin Altintug, Ehefrau einer der Schlüsselfiguren der IS-Szene in der Region Gaziantep. Ihr Ehemann Halil Ibrahim Durgun soll das Blutbad in Ankara geplant, die beiden Selbstmordattentäter des Anschlags am 10.Oktober 2015 in einem Pkw nach Ankara geführt und sich nach dem Anschlag selbst bei einer Hausdurchsuchung in Gaziantep in die Luft gesprengt haben. Esin Altintug, die sich in einem Zimmer im selben Haus aufhielt, wurde anschließend festgenommen. Sie gab in ihrer Aussage an, dass ihr Mann nach dem Massaker in Ankara sein Aussehen völlig verändert und dass sie nichts davon gewusst habe, dass ihr Mann für den IS arbeite.
Dem Kreuzverhör der Anwälte konnte sie schließlich keinen Widerstand mehr leisten und antwortete auf Fragen, dass sich ihr Mann im letzten Jahr einen religiösen Lebensstil angeeignet, seinen Rauch- und Alkoholkonsum radikal aufgegeben, in seiner Wohnung wöchentlich unter dem Deckmantel von Koranlesungen Versammlungen abgehalten und auf diesem Wege Anhänger angeworben habe. In der Stadt Gaziantep wurde so ein Netz der Terrororganisation IS aufgebaut, an mehreren Orten wurden in Kellerräumen Lager angemietet, um dort Waffen, acht Sprengstoffwesten und weiteres Material zu lagern. Aus diesen Zellen heraus wurden die Selbstmordanschläge in der gesamten Türkei geplant und umgesetzt.
Verhaftung im Gerichtssaal
Auf unermüdliches Beharren der Rechtsanwälte hin sah sich der Staatsanwalt gezwungen, die Verhaftung der Frau zu fordern. Sie wurde im Gerichtssaal festgenommen und ins Gefängnis abgeführt. So ist ihr Kontakt mit der IS-Szene in Gaziantep unterbrochen. Esin Altintug ist nun in U-Haft genommen, ob sie später bestraft wird, muss abgewartet werden. Ferner wurde gegen eine weitere Angeklagte, Hatice Akaltin, die von Altintug in ihrer Wohnung regelmäßig besucht wurde und sich auf der Flucht befindet, Haftbefehl erlassen. Mit der Verhaftung von Altintug hat sich die Zahl der mutmaßlichen IS-Terroristen in U-Haft auf 18 erhöht, weitere 18 Angeklagte befinden sich derzeit auf der Flucht.
Am Nachmittag wurden zwei weitere Angeklagte aus der U-Haft dem Richter vorgeführt und angehört. Die Angeklagten, Talha Günes und Metin Akaltin, betonten zu Beginn ihrer handschriftlich verfassten und vorgelesenen Aussagen, die stark politisch und religiös geprägt waren, dass sie sich deshalb in Haft befinden, weil sie Muslime und Protagonisten eines Scharia-Rechtssystem seien, und wiesen die ihnen in der Klageschrift vorgeworfenen Straftaten zurück. Sie unterstrichen, dass sie von diesem Gericht keine gerechte Verurteilung erwarten, und lehnten alle Rechtssysteme ab, die nicht auf einem Scharia-Rechtssystem basieren. Sie weigerten sich, auf die Fragen der Klägeranwälte eine Antwort zu geben. Weiterhin beleidigten sie Betroffene und deren Anwälte, sodass es zu Tumulten im Gerichtssaal kam.
Gespräche mit Betroffenen, Vertretern der Gewerkschaft und der deutschen Botschaft
Nach der Gerichtsverhandlung wurden wir von den Betroffenen und deren Anwälten zu einem Gespräch geladen. Der Krefelder GEW-Vorsitzende Philipp Einfalt wurde für diesen Termin als Sprecher der Delegation benannt und sprach den Anwesenden im Namen der GEW und den anderen Mitgliedern der Delegation Mitgefühl und Solidarität aus. Unsere Anwesenheit und die Prozessbeobachtung wurden sehr hoch gewertet. Später am Abend trafen wir uns mit Leitungsmitgliedern von KESK und Eğitim Sen zum Gedankenaustausch. Weiterhin war eine Mitarbeiterin der deutschen Botschaft anwesend. Die Situation in der Türkei ist schwierig. Viele Beschäftigte sind entlassen. Unter anderem werden zurzeit 800 Mitglieder von Eğitim Sen, die aus dem Lehrerberuf entlassen wurden, von ihrer Gewerkschaft finanziell unterstützt. Sehr lange kann eine Gewerkschaft alleine solche Kosten nicht tragen!