Opfer und Täter werden immer jünger. Bei den 11-Jährigen seien es meist noch Bikinifotos, die ohne Zustimmung online verbreitet werden, schon bei 13-Jährigen aber öfter auch Nacktaufnahmen, sagt Jasmin Wittmann. Die 21-Jährige engagiert sich seit fünf Jahren ehrenamtlich als Scout bei JUUUPORT.de – einer Onlineberatungsplattform für Jugendliche bei Problemen im Web. Sie hat zunehmend mit Cybermobbingfällen zu tun, die in den Bereich des sogenannten Sextings fallen. „Meist sind Mädchen betroffen, deren Beziehung in die Brüche ging – und aus Rache schickt der Ex intime Bilder herum.“
Erst kennen diese ein paar Freunde, dann die ganze Klasse, irgendwann die gesamte Schule. Oder es werden öffentliche -Fake-Profile bei Instagram erstellt, und die Fotos gleich mit der ganzen Welt geteilt. JUUUPORT ist oft die erste Anlaufstelle für die Betroffenen, die sich aus Scham nicht mehr in die Schule trauen. Oder aus Angst, weil Mitschülerinnen und Mitschüler sie mit Handy-Nachrichten wie „Morgen nach der Schule mach ich dich fertig“ und „Geh sterben, du hässliche Kuh“ quälen.
Waren es erst soziale Netzwerke wie Facebook, sind es nun Instant-Messaging-Dienste wie WhatsApp, über die Kinder und Jugendliche mobben. Digital drangsalieren die Täterinnen und Täter anders als auf dem Schulhof: ungehemmt und fern der Kontrolle Erwachsener, mit Fotos und Videos, die das Internet nicht vergisst, zeitlich weit nach Schulschluss hinaus – und mit riesiger Reichweite.
„Die Täter haben immer mehr Möglichkeiten. Andere zu beleidigen, wird immer leichter und geht immer schneller.“ (Nadine Eikenbusch)
Die Studie Cyberlife II: Spannungsfeld zwischen Faszination und Gefahr (2017), für die das Bündnis gegen Cybermobbing e. V. 3.000 Eltern, Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler befragte, bilanziert: Rund 13 Prozent der Schülerinnen und Schüler waren bereits von Cybermobbing betroffen. Das sind fast 4 Prozent mehr als in der ersten Studie 2013. An Berufsschulen wurden nach Angaben der Lehrkräfte die meisten Fälle gemeldet (91 Prozent), doch schon jede zweite Grundschule kennt das Problem. Die Referentin der EU-Initiative Klicksafe der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, Nadine Eikenbusch, erklärt die Zunahme auch mit der ständigen technischen Weiterentwicklung. „Die Täter haben immer mehr Möglichkeiten“, sagt sie. „Andere zu beleidigen, wird immer leichter und geht immer schneller.“
Am häufigsten beobachten Lehrende laut Studie bei den Opfern niedergeschlagene oder bedrückte Stimmungen (74 Prozent). Fast jeder Zweite bemerkt Angstzustände und Leistungsabfall. Weitere Symptome sind Konzentrationsprobleme (42 Prozent) und häufige Fehlzeiten (32 Prozent). Jedes fünfte Cybermobbingopfer hatte bereits Suizidgedanken. Brisant: Trotzdem gibt jede zehnte Lehrkraft an, Cybermobbing nicht für ein gefährliches Problem zu halten.
Eikenbusch sieht mehrere Gründe dafür, dass sich Schulen teils schwertun: Cybermobbing gilt als Problem der anderen, die Aneignung von Fachwissen erfordert Eigenengagement. Das Thema Medienkompetenz ist in den Lehrplänen und im Unterricht zu wenig verankert. Ungeklärt sind etliche Fragen: In welchem Fach bringe ich Datenschutz und Privatsphäre, aber auch Regeln des sozialen Umgangs unter? Wer bezahlt Fortbildungen für das Kollegium? Im Notfall kommt noch die juristische Perspektive dazu: Wann muss ich als Lehrkraft zur Polizei gehen?
„Wir müssen aufpassen, dass die Jugend nicht verroht. Die Sprache unter den Jugendlichen wird zunehmend aggressiver. Die sagen zu einem Mitschüler ‚Spring von der Brücke, du Hurensohn‘ und halten das für einen Witz.“ (Efthymios Vlahos)
Als Vorbild kann die Grund- und Werkrealschule Bergschule Singen im baden-württembergischen Remchingen dienen: Sie ist seit November 2018 „Schule gegen Cybermobbing“. Das Kollegium wurde durch das Bündnis für Cybermobbing fortgebildet. Es gibt eine monatlich tagende Steuerungsgruppe aus Lehrkräften, der Schulleitung, dem Schulpsychologen sowie Schülerinnen und Schülern und einen Handlungsleitfaden für den Notfall. „Seitdem sind die Fälle zurückgegangen“, sagt Rektor Efthymios Vlahos. Ab September wird die Schulsozialarbeit Schülerinnen und Schüler zu Medienscouts ausbilden. Zur Prävention arbeitet jede 5. Klasse mit dem Lions-Quest-Programm, das der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann entwickelte, um Respekt und Rücksicht zu fördern.
Auch an der Bergschule ist der häufigste Tatort WhatsApp. Das gehe schon in den Klassen 3 und 4 los, „spätestens aber ab Klasse 5“, sagt Vlahos. In einem extremen Fall gründete ein Sechstklässler eine Gruppe gegen einen Mitschüler, die bis zum Aufruf zum Suizid ging. Das Opfer sei „zum Glück ein stabiles Kind“ gewesen und habe sich sofort einem Lehrer anvertraut. Der Täter wurde mit vorübergehendem Schulausschluss bestraft.
Zu erkennen, ob jemand digital gemobbt werde, sei mit „die größte Herausforderung“, sagt der Rektor. „Da sind wir auch darauf angewiesen, dass die Schülerinnen und Schüler zu uns kommen.“ Ebenfalls schwierig sei die Kommunikation mit den Eltern des Täters. Die wollten oft nicht glauben, dass ihr Kind jemanden terrorisiert habe, wiesen alle Vorwürfe zurück – „und machen die Täter zum Opfer“. Vlahos warnt eindringlich: „Wir müssen aufpassen, dass die Jugend nicht verroht. Die Sprache unter den Jugendlichen wird zunehmend aggressiver. Die sagen zu einem Mitschüler ‚Spring von der Brücke, du Hurensohn‘ und halten das für einen Witz.“
Thema auf der Agenda halten
GEW-Schulexpertin Ilka Hoffmann fordert, Cybermobbing müsse durchgehend Thema in der Lehrkräftebildung werden – sowohl in der Aus- als auch in der Fortbildung. Würden Lehrerinnen und Lehrer mit einem konkreten Fall konfrontiert, seien sie aktuell meist unvorbereitet – „und überfordert“. Es gebe zwar Anlaufstellen, Beratungsmöglichkeiten und Fortbildungsangebote, „aber weder ausreichend noch flächendeckend“.
Nach einer ersten Cybermobbing-Umfrage der GEW im Jahr 2007 will das neue Bundesforum Digitalisierung pädagogische Handreichungen erarbeiten. Wichtig sei, „das Thema auf der politischen Agenda zu halten“, betont Hoffmann – und nicht erst dann wieder darüber zu diskutieren, wenn sich ein weiterer junger Mensch das Leben genommen habe.
Tipps sowohl für Schülerinnen und Schüler als auch für Lehrerinnen und Lehrer gibt es unter anderem auf den Webseiten von JUUUPORT und Klicksafe: Betroffene sollten die Angriffe per Screenshot dokumentieren, die Absender melden und blockieren.
Tipps der Polizei
In der von Klicksafe veröffentlichten Broschüre Was tun bei (Cyber)Mobbing? Systemische Intervention und Prävention in der Schule werden auch rechtliche Grundlagen erläutert. So ist Cybermobbing zwar kein eigener Straftatbestand, aber es ist möglich, gegen einzelne strafrechtlich relevante Tatbestände vorzugehen – etwa Verleumdung, Erpressung oder die unerlaubte Verbreitung von Fotos und Videos. In diesen Fällen sollte die Polizei eingeschaltet werden.
Die Polizeiliche Kriminalprävention des Bundes und der Länder gibt auf ihrer Homepage ebenfalls detaillierte Hinweise: So dürfen Lehrpersonen nur mit Erlaubnis der Eltern das Handy einer Schülerin oder eines Schülers einsehen. Bei Verdacht auf eine Straftat dürfen nur die Polizei oder die Staatsanwaltschaft das Gerät auch gegen den Willen des mutmaßlichen Täters durchsuchen. Lehrkräfte können das Smartphone jedoch einziehen.
Im Vorwort der Klicksafe-Publikation heißt es übrigens auch: „In einer gut geführten Klasse gibt es weniger Mobbing.“ Doch damit fängt das Problem aus Sicht der GEW schon an: Da Lehrkräfte im Unterricht kaum Zeit für das hätten, was über die reine Wissensvermittlung hinausgeht, sei es schwer, ein Klima aufzubauen, in dem das Problem kaum vorkommt oder angstfrei thematisiert werden kann, gibt Hoffmann zu bedenken.