Es ist schon eine kleine Sensation: Erstmals werden in diesem Jahr in Deutschland mehr junge Menschen neu in ein Studium starten als eine Ausbildung im Betrieb aufnehmen. Rund 482 400 neue Lehrverträge zählen Industrie, Handel, Handwerk und freie Berufe zum gesetzlichen Bilanzstichtag 30. September. Das sind 20 500 oder 4,1 Prozent weniger als im Vorjahr. Universitäten und Fachhochschulen rechnen dagegen in diesen Tagen fest mit der Neueinschreibung von etwa 500 000 Erstsemestern.
Der Trend zum Studium zeichnet sich seit Jahren ab. Er folgt einem Wandel auch in der deutschen Beschäftigungsstruktur. Laut allen Arbeitsprognosen werden wissensbasierte Tätigkeiten noch mehr zunehmen, produktionsnahe dagegen zurückgehen. Auch konservative Bildungspolitiker, die früher nicht müde wurden, vor einer drohenden «Akademikerschwemme» zu warnen, räumen inzwischen ein, dass mit den früheren dürftigen deutschen Hochschulabsolventen-Quoten der heutige Erfolg der deutschen Wirtschaft kaum möglich gewesen wäre.
Anspruchsvolle Tätigkeiten immer wichtiger
Der OECD-Bildungsexperte Andreas Schleicher, der seit Jahren für eine höhere Akademiker-Quote wirbt, prognostiziert einen noch stärkeren Wandel auf dem Arbeitsmarkt: Auf der Wachstumsseite stünden noch mehr anspruchsvolle Tätigkeiten, die Problemlösungskompetenz und Abstraktionsvermögen erforderten - während sich einfache Technik-Arbeiten weiter automatisieren ließen. Dabei hätten Jobs wie Friseur oder Taxifahrer noch Bestand, weil sie nicht in Billiglohnländer ausgelagert werden könnten. Die größte Gefahr sieht Schleicher hingegen für einfache Büroberufe und Dienstleistungen, die sich noch stärker als heute digitalisieren ließen. In der Verwaltung drohe eine zweite technische Revolution.
Gleichwohl haben der anhaltende Run auf die Hochschulen und die sinkenden Anfängerzahlen in der beruflichen Bildung eine neue Debatte über einen «Akademisierungswahn» ausgelöst. Der SPD-Philosoph Julian Nida-Rümelin sieht durch die steigenden Studentenzahlen gar «die größte Stärke der deutschen Bildungstradition» in Gefahr - nämlich die Verbindung von staatlicher Bildung in der Berufsschule und beruflicher Ausbildung im Betrieb, schrieb Nida-Rümelin in der «FAS». Der frühere SPD-Bildungsminister Klaus von Dohnanyi legte dieser Tage in der «Süddeutschen Zeitung» nach. Er warnte davor, in der Aufnahme eines handwerklichen Berufs einen «Bildungsabstieg» zu sehen. Schließlich sei seine Tochter auch erfolgreiche Goldschmiedin in Florenz, meinte der 85-Jährige.
An Bildungskämpfe der 80er und 90er erinnert
Wer die Debatte Studium versus Lehre schon etwas länger verfolgt, fühlt sich an die ideologiebehafteten Bildungskämpfe der 80er und 90er Jahre erinnert. Doch die damals vor allem von Bildungspolitikern der Union gern benutzte Schreckensvision einer «Akademikerschwemme» und des «Taxifahrenden Dr. Arbeitslos» blieb eine Stammtisch-Fiktion. Bei ihrer Entscheidung für Studium oder Lehre haben die jungen Menschen wie deren Eltern heute meist praktische Erwägungen im Blick. So ist die Arbeitslosenquote von Hochschulabsolventen in Deutschland mit 2,4 Prozent erheblich niedriger als die von betrieblich ausgebildeten Fachkräften (5,8 Prozent). Und: Akademiker verdienten
2011 hierzulande fast zwei Drittel mehr als Absolventen einer Lehre.
Der Chef des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Joachim Möller, warnt denn auch davor, Studium und Lehre gegeneinander auszuspielen. Statt «Scheinprobleme wie einen angeblichen Akademisierungswahn» zu erörtern, müssten Bildungspotenziale besser ausgeschöpft und möglichst viele der völlig ungelernten 1,5 Millionen Erwachsenen zwischen 20 und 30 Jahren nachträglich in eine Ausbildung vermittelt werden, sagte Möller der Zeitschrift «Forschung & Lehre».
Folgt man den Ausbildungsplatz-Bilanzen der Bundesagentur für Arbeit (BA), dann ist das Lehrstellenangebot der Wirtschaft seit Jahren rückläufig - wie auch die Zahl der sich an der Ausbildung beteiligenden Unternehmen. Von den insgesamt 2,1 Millionen Firmen stellten im vergangenen Jahr nur 21,7 Prozent neue Lehrlinge ein. Dabei mangelt es allen Klagen aus der Wirtschaft zum Trotz nicht an Bewerbern - wenn auch zwischen den Berufswünschen und Erwartungen der jungen Menschen und den Qualifikationsanforderungen der Betriebe bisweilen Welten klaffen. Jeder vierte neue Lehrling hat heute Abitur, zugleich ist fast jeder zweite Ausbildungsberuf Haupt- und Realschülern faktisch verschlossen. Wegen der vielen nötigen Nachqualifizierungen und ergebnislosen Bewerbungen sind Hauptschulabsolventen beim Ersteintritt in eine Lehre inzwischen im Schnitt 19,2 Jahre alt.
Gegen das Gerede vom "Akademisierungswahn"
Geht der Wirtschaft der Lehrlingsnachwuchs aus, weil heute zu viele junge Leute studieren? Mitnichten. Auch dieses Jahr gibt es mehr Bewerber um einen Ausbildungsplatz als freie Lehrstellen. Doch zahlreiche Betriebe müssen bei ihrer Einstellungspraxis umdenken. von Karl-Heinz Reith (dpa)