Zum Inhalt springen

Gedenken an den Holocaust

Delegationen der Bildungsgewerkschaften Histadrut Hamorim (Israel), NSZZ Solidarność und ZNP (Polen) sowie VBE und GEW (Deutschland) haben anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenktags am 27. Januar zum vierten Mal gemeinsam in Auschwitz der Opfer der NS-Verbrechen gedacht.

Fotos: Lukas Plewnia / Elina Stock

Die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe bekräftigte mit ihrer Teilnahme das Engagement ihres Vorgängers Ulrich Thöne, der das gemeinsame Gedenken der Bildungsgewerkschaften 2008 erstmalig initiiert hatte. Entsprechend des erklärten Ziels aller beteiligten Organisationen, „die heutige Jugend und die nachfolgenden Generationen in einer pädagogisch adäquaten Auseinandersetzung mit dem Holocaust zur Humanität, zur Wachsamkeit im öffentlichen Leben und zum friedlichen Miteinander zu erziehen“, wurden auch dieses Mal ausdrücklich jüngere Lehrkräfte eingeladen, an dieser besonderen internationalen Begegnung teilzunehmen.

Die Reise führte zunächst nach Krakau, wo die polnische Lehrergewerkschaft ZNP mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung ein Rahmenprogramm zum gegenseitigen Kennenlernen der deutschen, israelischen und polnischen Teilnehmer/innen organisiert hatte. Im Stadtviertel Kazimierz, das einst zu den wichtigsten kulturellen Zentren des osteuropäischen Judentums zählte, erlebten wir Klezmermusik und koscheres Abendessen. Das gesellige Beisammensein war eine wichtige Grundlage der Begegnung und ermöglichte Gespräche zwischen den Delegierten, auch während des Besuchs in Auschwitz am Folgetag.

Die deutschsprachige Bezeichnung der Stadt Oświęcim, an deren Rändern die größten nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager errichtet worden waren, steht wie kein anderes Wort als Symbol für den Holocaust. Teile des Lagerkomplexes sind heute staatliches polnisches Museum bzw. Gedenkstätte und dokumentieren die grauenvollen NS-Völkermordverbrechen.

Eindrücke vom Ort des Schreckens und Gedenkens
Zum 69. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee waren 24 Holocaust-Überlebende aus Israel sowie mehr als 60 Abgeordnete der Knesset, begleitet von Mitgliedern des israelischen Militärs, angereist. Sie besuchten, ebenso wie wir, zunächst das Stammlager Auschwitz I, um anschließend an der offiziellen Gedenkveranstaltung in Birkenau (Auschwitz II) teilzunehmen, bei der auch Vertreter des polnischen Parlaments Sejm sowie weitere hochrangige internationale Gäste anwesend waren.

Aufgrund erhöhter Sicherheitsmaßnahmen und längerer Wartezeiten fiel unsere Besichtigung der Gedenkstätte relativ knapp, jedoch nicht minder eindrücklich aus: In den ehemaligen ‚Häftlings-Wohnblöcken‘ des Stammlagers vergegenwärtigten uns vor allem die Vitrinen mit Bergen von Haar, Schuhen, Brillen, Prothesen und namentlich gekennzeichneter Koffer die Dimensionen der Entmenschlichung, der systematischen Folter und Massentötung. Nach einer Gedenkminute vor der sogenannten Todeswand, an der Tausende Gefangene erschossen worden waren, verließen wir das Gelände wieder durch das Eingangstor mit der zynischen Überschrift ‚Arbeit macht frei‘, um rechtzeitig im drei Kilometer entfernten Auschwitz-Birkenau einzutreffen.

Wenngleich für eine Konfrontation mit den einstigen Gaskammern und Krematorien sowie eine intensivere Auseinandersetzung mit den Schrecken vor Ort keine Zeit blieb, führten uns die riesigen, mit Stacheldraht umzäunten Anlagen und die Bahnschienen, auf denen etwa 1,5 Millionen Menschen aus ganz Europa in die Todesfabrik deportiert wurden, das brutale industrielle Vernichtungssystem des NS-Regimes deutlich vor Augen.

"Wir haben auf den Toten gesessen"
Nur wenige Deportierte entkamen dem Tod. Einer von ihnen, Noah Klieger, sprach zum Auftakt der Gedenkstunde, vom Todesmarsch in das KZ Ravensbrück: „Wir waren 150 Häftlinge in einem Viehwaggon unterwegs nach Gliwice” - „wir waren wie Schatten, nicht länger lebende Wesen. Zwischen uns standen Leichen. Es war so eng in dem Waggon, dass die Toten nicht zu Boden fielen.” Als der Zug hielt und sowjetische Soldaten ihnen sagten, sie seien frei, hätten die Überlebenden nicht mehr die Kraft gehabt, beim Kaddisch, dem jüdischen Totengebet, zu stehen. „Wir haben auf den Toten gesessen und im Sitzen gebetet”, so Klieger.

Nach weiteren, mit Klavier- und Geigenmusik gerahmten Reden in dem mit ca. 1000 Personen gefüllten Zelt ging es zu Fuß über das eisige Gelände zum Denkmal für die Opfer von Auschwitz-Birkenau. Dort wurden zunächst sowohl das Kaddisch als auch das „El Male Rachamim", das Erinnerungsgebet für die Holocaust-Opfer, rezitiert. Abschließend zündeten die Anwesenden Kerzen an und legten Blumen nieder. Die Kränze unserer Delegationen transportierten mit dem Spruch „Never again“ das, was Theodor Adorno als übergeordnetes Ziel einer Erziehung nach Auschwitz formulierte: „Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.“

Holocaust Education
Die besondere Verantwortung sowohl von Pädagoginnen und Pädagogen als auch von (Bildungs-)Gewerkschaften sowie die verschiedenen Perspektiven auf ‚Holocaust Education‘ in Deutschland, Polen und Israel standen im Mittelpunkt des zweiten Teils unserer Reise, die uns nach Warschau führte. Im Museum der Geschichte der polnischen Juden, das im April letzten Jahres, siebzig Jahre nach Beginn des Aufstands im Warschauer Ghetto, gegenüber dem Denkmal für die Widerstandskämpfer teileröffnet wurde, erhielten wir zunächst eine Einführung in die faszinierende architektonische und museumspädagogische Konzeption des Hauses.

Anschließend begrüßten uns Dorota Obidniak (ZNP) und Knut Dethlefsen, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Warschau, zum Seminarauftakt. Sie betonten die Wichtigkeit der internationalen Gewerkschaftszusammenarbeit, der Auseinandersetzung mit der Geschichte im Allgemeinen sowie des Lernens und Lehrens über den Holocaust im Speziellen. Da Erinnerungskulturen unterschiedlich seien, gäbe es kein allgemeingültiges Konzept für historische und politische Bildung, so Dethlefsen. Jede Generation müsse sich der Geschichte neu stellen.

Vielfältige jüdische Biographien
Einen innovativen Zugang hierzu präsentierte uns Edward Serotta, Gründer des Online-Portals centropa, das auf einer einzigartigen digitalen und frei zugänglichen Datenbank basiert. Es umfasst etwa 1.250 Interviews mit jüdischen Zeitzeugen aus 16 europäischen Ländern sowie rund 22000 Familienfotos, die vielfältige jüdische Biographien und Geschichten des 20. Jahrhunderts dokumentieren und sowohl für individuelle Erinnerungen als auch für kollektive Gedächtnisse von unschätzbarem Wert sind.

Unter dem Motto „Jüdische Erinnerung bewahren - Geschichte zum Leben erwecken“ hat das internationale und interdisziplinär arbeitende Team von centropa außerdem lehrreiches Material für den Unterricht aufbereitet und ein multimediales sowie mehrsprachiges Bildungsprogramm geschaffen, das sich an Schulen in ganz Europa, Nordamerika und Israel richtet. Auch das ‚virtuelle Schteltl‘, ein Portal zur jüdischen Lokalgeschichte in Polen und mehrsprachiges Multimediaprojekt des Museums, stellt eine wertvolle Informationsquelle für Lehrer/innen und Schüler/innen dar.

Sowohl der Tagungsort, der uns die tausendjährige Geschichte des polnischen Judentums bis in die Gegenwart veranschaulichte, als auch die unterschiedlichen Themenbezüge und
Zugänge der Teilnehmer/innen inspirierten den weiteren Austausch über die Herausforderungen einer Erziehung nach Auschwitz. Dieser erfolgte zunächst über eine Zusammenschau der gewerkschaftlichen und schulischen Aktivitäten zum Thema Holocaust aus der jeweiligen nationalen Perspektive.

Avraham Rocheli von der israelischen Lehrergewerkschaft erläuterte, dass das Thema Holocaust und Erinnerung an die Shoa ein integraler Bestandteil des Curriculums in Israel sei und stellte die gewerkschaftlich geförderten Angebote für Lehrende und Lernende (Unterrichtsmaterialien, Fortbildungen, …) zur Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus vor. Er unterstrich, dass Lehrer/innen eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung antidiskriminierender Praktiken und Einstellungen spielten.

Gedenkstättenbesuche und Gespräche mit Zeitzeugen
Marlis Tepe berichtete, dass der Themenbereich Nationalsozialismus und Holocaust in allen Bundesländern fest verankert ist und im Fach Geschichte in den Jahrgangsstufen 8 und 9 verpflichtend, aber auch in anderen Fächern wie Deutsch oder Religion/Ethik sowie in höheren Jahrgängen unterrichtet wird. Sie verwies ebenso darauf, dass Gedenkstättenbesuche und Gespräche mit Zeitzeugen, die „dazu beigetragen, dass das Unfassbare mit einem Einzelschicksal verbunden werden kann“, wichtiger Bestandteil von Holocaust Education in Deutschland sind. Außerdem plädierte sie dafür, dass sich Lehrkräfte „als Nachkommen der Opfer, der Überlebenden, der Täter, der Mitläufer und Wegsehenden“ auch ihre eigenen Biographien bewusst machen und die Bedeutung für den Unterricht reflektieren.

Katharina Kaminski (GEW Nordrhein-Westfalen) stellte ergänzend die deutsch-israelischen Gewerkschaftsseminare von GEW und Histadrut Hamorim vor, die im zweijährigen Rhythmus stattfinden, zuletzt in Berlin unter dem Motto „Eine neue Erinnerungskultur schaffen“.

Kolleginnen der ZNP und NSZZ Solidarność präsentierten drei Etappen der Holocaust Education in Polen und gaben Einblicke in die Curricula ab der vierten Klasse, in welcher die Auseinandersetzung mit jüdischer Kultur Bestandteil des heimatkundlichen Unterrichts ist. Zudem informierten sie über das aktuelle Gedenkjahr zu Ehren Jan Karskis, zentrale Figur der polnischen Widerstandsbewegung.

Verfestigung von Stereotypen vermeiden
In der darauffolgenden Workshop-Phase setzten wir uns, angeleitet von der Erziehungswissenschaftlerin und Menschenrechtsaktivistin Marzanna Pogorzelska, mit den Schwerpunktsetzungen sowie den Chancen und Herausforderungen der jeweiligen, nationalstaatlich geprägten und von kollektiven und individuellen Identitätsbezügen beeinflussten Perspektiven auseinander. Dass beim Vergleich der pädagogischen Ansätze und Angebote auch spezifische gesellschaftliche Entwicklungen, institutionelle Rahmenbedingungen sowie emotionale und kognitive Lernvoraussetzungen berücksichtigt werden müssen, um eine Verfestigung von Stereotypen zu vermeiden, wurde im Austausch deutlich.


Fragen, die in der Diskussion nicht abschließend behandelt werden konnten und zugleich unsere offene und konstruktive Begegnung charakterisieren, waren z.B.: Inwieweit kann Holocaust Education im Kontext einer allgemeinen Menschenrechtspädagogik weiterentwickelt werden? Welche Zugänge zu den Themen Antisemitismus, Rassismus und Xenophobie sind hinsichtlich verändernder gesellschaftlicher und subjektiver Vergangenheitsbezüge und Zukunftsentwürfe geeignet, um Lernprozesse im Sinne der gemeinsam erklärten Ziele der Bildungsgewerkschaften zu gestalten?