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Qualität im Ganztag

„Gebt den Kindern mehr Mitwirkungsrechte!“

Der geplante Rechtsanspruch auf Bildung im Ganztag eröffnet neue Möglichkeiten, demokratische Bildung im Grundschulalter zu verankern. Damit das gelingt, müssen Ganztagsgrundschulen ein klares Leitbild entwickeln.

Illustration: Stefan Müller/Thinkpen

Demokratiebildung ist ein Prozess – Kinder entwickeln über Erfahrungen im Schulalltag Verhaltensweisen, die von demokratischen Werten und Elementen wie Partizipation, Aushandlung, Anerkennung und Engagement bestimmt sind. Dabei geht es nicht nur um Mitsprache und Mitbestimmung, sondern auch um die Vermittlung von Wissen über die Demokratie und ihre Funktionsweise. Gerade Ganztagsschulen bieten hier viel Potenzial: Mehr Zeit und mehr Räume außerhalb des Unterrichts eröffneten neue Möglichkeiten, demokratierelevante Kompetenzen zu fördern, erklärt Katja Flämig, beim Deutschen Jugendinstitut (DJI) verantwortlich für das Forschungsprojekt „Demokratiebildung im Ganztag“.

„Auch wenn Lehr- und Fachkräfte demokratische Werte fördern wollen, bleibt dies oft an den institutionellen Rahmen und die alltäglichen Routinen gebunden.“ (Katja Flämig)

Doch diese Möglichkeiten werden bislang „nicht ausreichend genutzt“, hat der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung festgestellt. Auch Flämig beobachtet: „Demokratiebildung als Konzept für Ganztagsgrundschulen ist meist eher unbekannt.“ Oft bestünden parallele Strukturen für den unterrichtlichen und den außerunterrichtlichen Bereich – eine Trennung, die ganzheitliche Demokratieerfahrungen erschwere. Darüber hinaus werde die Perspektive der Kinder zu wenig berücksichtigt. 

Besonders deutlich werde dies beim Übergang von der Kita zur Grundschule: Während in Kitas demokratierelevante Kompetenzen spielerisch vermittelt würden, verlange die schulische Kultur zunächst Anpassung. „Auch wenn Lehr- und Fachkräfte demokratische Werte fördern wollen, bleibt dies oft an den institutionellen Rahmen und die alltäglichen Routinen gebunden“, skizziert Flämig das Spannungsfeld, in dem sich Schulen bewegen. Sie stünden vor der Frage, wie der Ganztag Demokratie leben kann, ohne seine Strukturprinzipien und die pädagogische Differenz aufzugeben.

Gemeinsame pädagogische Haltung entwickeln

Zentral für gelingende Demokratiebildung seien deshalb die Arbeitsweise der gesamten Institution und deren Ausrichtung an demokratischen Werten und Prinzipien, so die DJI-Studie. Verankert sein sollte dies in einem klaren Leitbild, das Partizipation, Inklusion und Kinderrechte betont – und einen strukturellen Rahmen dafür schafft. Es gilt, praxisnahe Konzepte zu entwickeln und Zeitressourcen bereitzustellen. 

Auch Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied Schule der GEW, fordert, dass demokratische Prozesse nicht nur gelehrt, sondern vorgelebt werden – durch gleichberechtigte Zusammenarbeit in der Schulleitung sowie in den multiprofessionellen Teams. „Der Ganztag bietet die Chance, ein gemeinsames Bildungsverständnis zu entwickeln.“ Ein solches Leitbild könne allen am Ganztag beteiligten Berufsgruppen Orientierung geben, ergänzt Doreen Siebernik, GEW-Vorstandsmitglied Jugendhilfe und Sozialarbeit: Es schaffe die Basis, um eine gemeinsame pädagogische Haltung zu entwickeln – mit dem Kind im Zentrum.

Oft scheitert Mitbestimmung jedoch an der fehlenden Transparenz ihrer Grenzen. Wenn Vorschläge ignoriert oder Entscheidungen nicht umgesetzt werden, fühlten Kinder sich von Erwachsenen nicht ernst genommen. Flämig rät deshalb, Machtverhältnisse im Schulalltag bewusst zu reflektieren. „Erwachsene müssen klarmachen, in welchen Bereichen Kinder wirklich mitentscheiden dürfen und wie Entscheidungen gemeinsam getroffen und umgesetzt werden.“ Scheinpartizipation und Beschlüsse, die im Sande verlaufen, führten zu Frustration und der Erfahrung, dass sich der Einsatz für eigene Interessen nicht lohnt.

Kindern zuhören und sie informieren

Dies zeigt sich laut Flämig häufig in der Arbeit von Schülerparlamenten oder Klassenräten. Diese Gremien gelten als pädagogischer Kern der Demokratiebildung, als sinnvoller Weg, um Meinungsäußerung, Zusammenarbeit, Verantwortungsübernahme und Entscheidungsfindung zu lernen und auch formale Strukturen der Demokratie kennenzulernen. Ob Kinder hier echte Mitbestimmung und Selbstwirksamkeit erleben, hänge jedoch stark davon ab, „wie Erwachsene agieren, sich zurücknehmen oder lenkend eingreifen und den Verlauf der Gremien beeinflussen“, konstatiert Flämig.

Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) sieht das ähnlich. In ihrer Studie „Kinder reden mit“ wird kritisiert, dass sich Mitbestimmung im Schulalltag oft auf Aktivitäten wie die Wochenplanung beschränke – bei Unterricht und Klassenarbeiten bleibe sie hingegen gering. Die Autorinnen der Studie weisen darauf hin, dass Mitbestimmung nicht nur in Gremien und Ämtern erfolgt, sondern auch darin, Kindern zuzuhören und sie zu informieren. In einer Handreichung empfiehlt das DKJS beispielsweise, Kinder in die Planung und Durchführung von Klassenarbeiten einzubeziehen und Bewertungskriterien vorher transparent zu machen.

„Es stärkt das Verständnis für die Gemeinschaft, mit Kindern Regeln und Werte in der Gruppe zu reflektieren und Konflikte und Streit konstruktiv anzugehen.“

Ein bislang unterschätztes Potenzial für Demokratiebildung sieht Flämig in den Übergängen im Ganztag – etwa zwischen Unterricht, Kursen und Pausen, in denen die Kinder beispielsweise aufräumen müssen. Dabei verteilen sie häufig untereinander Aufgaben, übernehmen Verantwortung, treffen Absprachen und finden Kompromisse. Diese alltäglichen, oft übersehenen Situationen bieten echte Lerngelegenheiten. „Es stärkt das Verständnis für die Gemeinschaft, mit Kindern Regeln und Werte in der Gruppe zu reflektieren und Konflikte und Streit konstruktiv anzugehen“, betont sie. Entsprechend viel Zeit sollten Erwachsene dem einräumen, rät Flämig. Kinder, insbesondere aus sozial benachteiligten Lebenslagen oder mit Förderbedarfen, sehen und erleben hier erheblich mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten als in formalen Gremien und Ämtern.

Demokratiebildung liegt nicht allein in der Verantwortung der Schulen. So fordert die DKJS, dass sie ein fester Bestandteil der Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte werden müsse. Flämig sieht zudem Nachholbedarf in den Schulgesetzen der Länder: So können Schülerinnen und Schüler in den meisten Bundesländern erst ab der 3. oder 4. Klasse für das Amt einer Schülervertretung in Klassenkonferenzen kandidieren. Insbesondere ihre umfassende Beteiligung an den schulischen Gremien bezeichnet Flämig als einfache, aber wirkungsvolle Stärkung der Demokratiebildung. Ihre Forderung: „Gebt den Kindern mehr Mitwirkungsrechte!“