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Heterogenität in Bildungseinrichtungen

„Für viele ist das hier ein zweites Zuhause“

Ein Blick in die Praxis einer Bremer Brennpunkt-Grundschule zeigt: Um den Schatz der wachsenden Vielfalt zu heben, braucht es eine ausreichende Ausstattung mit qualifiziertem Personal – und mehr Zeit.

Haktan Cakim, Erzieher, und Sybille Spengler, Sozialpädagogin, legen Wert darauf, das soziale Miteinander an der Schule zu fördern. (Foto: Anne-Katrin Wehrmann)

Sachkunde-Unterricht, 4. Klasse. In Kleingruppen erarbeiten die Jungen und Mädchen, wie sie sich auf dem Fahrrad kleiden können, um im Straßenverkehr aufzufallen. Die Aufgabe ist Teil der Vorbereitung auf den Fahrrad-Führerschein, der demnächst ansteht. „Da geht es schon los“, sagt Klassenlehrerin Christiane Lindenlaub. „Manche Kinder kommen mit dem Rad zur Schule, andere haben noch nie auf einem gesessen. Wir müssen ihnen erst beibringen, wie Fahrradfahren überhaupt geht – aber dafür fehlt die Zeit.“

Zeit: Das ist der größte Mangel, den es gibt an der Grundschule am Halmerweg in Bremen-Gröpelingen. Und es fehlt an Personal, aber irgendwie hängt das eine ja mit dem anderen zusammen. Der Stadtteil gilt als sozialer Brennpunkt: Hier ist die Arbeitslosigkeit hoch, hier leben viele Familien mit Migrationshintergrund und -geringem Einkommen, hier werden viele unterschiedliche -Sprachen gesprochen. Es ist ein buntes Miteinander, von dem die Kinder viel profitieren. Aber: Viele haben vor der Schule noch nie ein Buch in der Hand gehabt, noch nie Deutsch gesprochen, noch nie geklebt oder gemalt.

„Wir stellen fest, dass viele Eltern ihre Kinder nicht genügend unterstützen können. Hier versuchen wir positiv einzuwirken, indem wir zum Beispiel das spielerische und soziale Miteinander fördern.“ (Sibylle Spengler)

Sonderpädagogin Anne Matthies-Rückel ist seit fast 30 Jahren an der Schule. Ihre nüchterne Erkenntnis: „Die sozialen Probleme im Stadtteil haben in den vergangenen Jahren noch zugenommen, das Leistungsniveau der Kinder hat abgenommen. Das bedeutet, dass ich noch mehr gebraucht werde als früher.“ Sibylle Spengler ist Sozialpädagogin an der angeschlossenen Betreuungsschule, an der bis zu 80 Kinder auch nachmittags verschiedene Angebote vom Mittagessen über Hausaufgabenbetreuung bis hin zu diversen Arbeitsgemeinschaften wahrnehmen können. „Wir stellen fest, dass viele Eltern ihre Kinder nicht genügend unterstützen können“, sagt sie. „Hier versuchen wir positiv einzuwirken, indem wir zum Beispiel das spielerische und soziale Miteinander fördern.“

33 Nationalitäten mit 22 Herkunftssprachen

Als einer von mehreren im Kollegium, die Türkisch und Arabisch sprechen, hat Erzieher Haktan Cakim einen besonderen Draht gerade auch zu den vielen muslimischen Kindern. „Ich bin wie sie hier im Stadtteil geboren und weiß, wie sie sich fühlen. Für viele ist das hier ein zweites Zuhause. Wir geben ihnen einen geschützten Raum.“

Nur 12,5 Prozent der 279 Kinder an der Grundschule sprechen Deutsch als Muttersprache. Insgesamt sind hier 33 Nationalitäten mit 22 Herkunftssprachen vertreten, gut 10 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Fast die Hälfte aller Familien hat Anspruch auf staatliche Leistungen für Bildung und Teilhabe, viele weitere Eltern arbeiten in prekären Verhältnissen.

„Was wir unbedingt bräuchten, wäre eine durchgängige Doppelbesetzung in den Klassen.“ (Angela Heidrich)

„Unsere Schule befindet sich in einem Stadtteil, der von Armut und vielen Sorgen und Nöten geprägt ist“, bringt es Schulleiterin Angela Heidrich auf den Punkt. „Und gleichzeitig auch von kultureller Vielfalt – was wir hier nicht als Nachteil sehen, sondern als Gewinn.“ Und doch sei es ein Problem, dass so vielen Kindern der deutsche Sprachschatz fehle: „Sie sind schon per se benachteiligt, weil einfach alles, was wir hier machen, sprachbasiert ist.“

Soziale Arbeit und soziales Lernen würden an der Schule viel Raum und Zeit einnehmen, sagt die Schulleiterin. Die Ergebnisse fänden sich aber leider in den Zeugnissen nicht wieder. „Was wir unbedingt bräuchten, wäre eine durchgängige Doppelbesetzung in den Klassen. Und mehr Wertschätzung für das, was die Kinder hier außerhalb des Curriculums leisten – zum Beispiel beim Tanzen oder Theaterspielen.“

Soziale Herkunft und Bildungschancen

Der nationale Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2020“ zeigt: Gerade im internationalen Vergleich ist hierzulande noch immer ein „enger Zusammenhang zwischen familialen Lebensverhältnissen, Bildungsbeteiligung sowie Zertifikats- und Kompetenzerwerb nachweisbar“. Für die Bildungs- und Entwicklungsprozesse von Kindern gebe es drei Arten von Risikolagen, heißt es dort – die der formal gering qualifizierten Eltern sowie die soziale und die finanzielle.

In Deutschland ist demnach fast ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen von mindestens einer dieser Risikolagen betroffen, für 4 Prozent gelten sogar alle drei gleichzeitig. Überproportional häufig trifft es Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund. Im Ländervergleich ist Bremen das Schlusslicht in dieser Statistik: Hier ist fast die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen von mindestens einer Risikolage betroffen.

„Darüber hinaus sind wir eines der wenigen Bundesländer, die explizit die soziale Lage und Zusammensetzung der Schülerschaft durch Sozialindikatoren berücksichtigen.“ (Maike Wiedwald)

Im Bereich der Inklusion habe sich Bremen einen Namen als Vorreiter des gemeinsamen Unterrichts gemacht, betont Maike Wiedwald, Pressesprecherin der Bremer Senatorin für Kinder und Bildung. „Darüber hinaus sind wir eines der wenigen Bundesländer, die explizit die soziale Lage und Zusammensetzung der Schülerschaft durch Sozialindikatoren berücksichtigen.“ Entsprechend dem Leitsatz „Ungleiches ungleich behandeln“ stelle das Bildungsressort Schulen in herausfordernden Lagen mit hohem Sozialindikator grundsätzlich sowohl in der Sach- wie auch in der Personalzuweisung deutlich mehr Mittel zur Verfügung. „Unter anderem ist auch die Doppelbesetzung an Grundschulen in schwierigem Umfeld eines unserer zentralen Vorhaben“, berichtet Wiedwald. Eine Stellenausschreibung, bei der auch die Grundschule am Halmerweg berücksichtigt werde, laufe gerade.

„Die Aufgaben werden immer vielfältiger – und damit auch die Belastungen für die Kolleginnen und Kollegen. Wir brauchen deswegen deutlich mehr Personal – und die Freiheit, vom Zensurendenken wegzukommen.“ (Barbara Schüll)

Auf jeden Fall bräuchten die Schulen mehr Flexibilität, um mit den veränderten Bedingungen umgehen zu können, betont die Bremer GEW-Landessprecherin Barbara Schüll, die als Vorkurslehrerin für Deutsch als Zweitsprache an der Grundschule am Halmerweg arbeitet. „Die Aufgaben werden immer vielfältiger – und damit auch die Belastungen für die Kolleginnen und Kollegen. Wir brauchen deswegen deutlich mehr Personal – und die Freiheit, vom Zensurendenken wegzukommen.“ Besonders wichtig sei die Einführung einer täglichen Kooperationsstunde: „Wir haben inzwischen so viele unterschiedliche Professionen an den Schulen, da braucht es Reflexion und Planungszeit.“

Fehlende Erfahrungen mit Interaktion

Maximo und Sila kommen gerne zur Schule. Maximos Eltern haben ungarische und ghanaische Wurzeln, Silas iranische und türkische. Hier sind die beiden Achtjährigen einfach zwei Kinder, die gerade in der Betreuungsschule eine Runde „Wer ist es?“ miteinander spielen. „Wir machen in der Schule viele spannende Sachen“, meint Sila, „darum macht es mir Spaß, hier zu sein. Ich mag es ganz doll, mit anderen zu spielen.“ Maximo ist da etwas zurückhaltender. Mit seinen Freunden sei er gerne zusammen, erzählt er. „Aber wenn da welche sind, die ich nicht kenne, bleibe ich lieber allein.“ Was ihm besonders gefällt: neue Dinge zu lernen, vor allem Englisch. Und auch Fußball spielt er gerne. „Eigentlich bin ich gut in Sport, aber ich bin da zu aggressiv“, sagt er über sich selbst. „Wenn ich verliere, kann ich mich nicht kontrollieren.“

Fehlende Selbstbeherrschung, angestaute -Aggressionen, mangelnde Konfliktfähigkeit: Auch das erlebt das Kollegium hier häufiger bei den Schülerinnen und Schülern. „Viele haben vor der Einschulung noch nicht ausreichend mit anderen Kindern sozial interagiert und sind jetzt auf dem Schulhof regelmäßig in Auseinandersetzungen verwickelt“, berichtet Klassenlehrerin Lindenlaub. Die Kinder in ihrer Vielfalt anzunehmen und zu fördern, sei eine tolle Aufgabe: „Aber oft ist es auch belastend, weil wir einfach nicht allen gerecht werden können.“ Es sei nicht möglich, alle Ungleichheiten innerhalb von vier Jahren zu beseitigen. „Wir können nicht alles für jeden erreichen. Wir können nur versuchen, die bestmögliche Lernumgebung zu schaffen, damit die Kinder möglichst viel für ihre Zukunft mitnehmen können.“