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„Für viele die letzte Chance“

Drogensucht, Kriminalität, Prostitution: Viele Schülerinnen und Schüler des Bildungszentrums Hermann Hesse haben schon eine Menge hinter sich. In der Schule in Frankfurt am Main können sie ihren Schulabschluss nachholen.

Mathematik-Lehrer Andreas Weber / Foto: Christoph Boeckheler

Früher hat Djago (Name geändert) morgens die Kaffeemaschine angeschaltet und dabei erst einmal einen „fetten Joint“ gebaut. Jahrelang habe er jeden Tag „massenweise“ gekifft und Kokain gezogen, berichtet der 34-Jährige mit Bomberjacke und Baseballkappe. In die Schule sei er schon ab der 5. Klasse nicht mehr gegangen. „Ich habe Schule gehasst, schon immer. Dort wird man schnell in eine Schublade gesteckt.“ Lieber hing er auf der Straße rum, dealte mit Drogen, drehte krumme Dinger. Mit 17 Jahren landete Djago zum ersten Mal im Gefängnis, danach immer wieder – mal ein paar Monate, mal ein paar Jahre. Jetzt steht der junge Mann kurz vor dem Hauptschulabschluss. „Für mich ist klar, dass ich das durchziehen will“, sagt Djago. „Chillen kann ich danach immer noch.“

Das Bildungszentrum Hermann Hesse (BZH) in Frankfurt am Main macht möglich, was anderswo nahezu undenkbar erscheint. Die Schule richtet sich an junge Menschen mit Sucht-, aber auch anderen Problemen. Vom Jugendlichen, der wegen Cannabis vom Gymnasiums geflogen ist, über die alleinerziehende Mutter, die als Prostituierte gearbeitet hat, bis hin zum älteren Ex-Knacki auf Bewährung: Am BZH im Stadtteil Sachsenhausen können alle ihren Haupt- oder Realschulabschluss nachholen – und sogar Abitur machen. „Das macht unsere Schule deutschlandweit einzigartig“, betont Schulleiter Jan Große. Träger ist der Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. in Frankfurt. Das Schulgeld von rund zwölf Euro pro Tag übernehmen in der Regel das Jugendamt oder der Sozialhilfeträger. Von den 100 Schülerinnen und Schülern, die an anderen Schulen längst gescheitert waren, machen hier jedes Jahr etwa 30 ihren Abschluss. „Für viele sind wir wirklich die letzte Chance“, sagt Große.

„Jeder Tag, den jemand zur Schule kommt und suchtmittelfrei lebt, ist ein Gewinn.“ (Jan Große)

Voraussetzung für die Aufnahme am Bildungszentrum ist: keine Drogen mehr zu nehmen. Oder zumindest den Willen dazu zu haben. Die Lehrkräfte wissen aus Erfahrung, dass Drogenkonsum die Aussicht auf einen Abschluss dramatisch senkt. „Irgendwann bekommt man beides nicht mehr unter einen Hut.“ Doch an der Schule gibt es für jeden eine zweite, dritte oder vierte Chance. Viele kommen nach einem Entzug oder einer Therapie wieder. Aber klar ist auch: Nicht alle schaffen den Absprung. „Sucht ist eine chronische Krankheit“, sagt Große. Eine ehemalige Schülerin, die sogar ihr Abi geschafft hat, sah er später wieder im Bahnhofsviertel rumlungern. Das tut weh. Aber: „Jeder Tag, den jemand zur Schule kommt und suchtmittelfrei lebt, ist ein Gewinn.“

Das BZH setzt stark auf Schulsozialarbeit. Jeder bekommt einen festen Ansprechpartner zugewiesen. „Wir kümmern uns um alle Belange rund um die Schule und darüber hinaus“, sagt der Koordinator der Schulsozialarbeit, Uwe Heilmann-Geideck. Alle Schülerinnen und Schüler haben regelmäßig Einzelgespräche. Egal, ob Wohnungssuche, Schulden oder Liebeskummer: Die Sozialarbeiter haben jederzeit ein offenes Ohr, vermitteln bei Bedarf an Fachstellen. Wenn jemand länger nicht im Unterricht auftaucht, telefonieren sie hinterher. Zur Not jeden Tag. Oft springt nur die Mailbox an. „Aber wir bleiben dran“, betont Heilmann-Geideck. „Wir versuchen, den Kontakt nicht abreißen zu lassen.“

Das A und O in der Schule sind die kleinen Lerngruppen, da sind sich alle einig. In jeder Klasse sitzen im Schnitt acht Schülerinnen und Schüler – wenn alle da sind, was so gut wie nie vorkommt. „Die kleinen Klassen sind super“, sagt Djago. „Der Lehrer hat dich voll im Blick. Du kannst überhaupt nichts anderes machen. Das schweißt total zusammen, alle helfen sich gegenseitig.“ Deutschlehrerin Alice Amberg verteilt zu einem Thema verschiedene Aufgaben und guckt allen Schülern einzeln über die Schulter. „Bei acht Leuten kommt man gut rum“, sagt Amberg. Entscheidend ist ihrer Meinung nach vor allem die Beziehungsarbeit. Viele der meist jungen Menschen hätten eine schlimme Zeit durchgemacht. Umso wichtiger sei ein respektvoller Umgang.

„Es kommt darauf an, jeden hier mitzunehmen.“ (Andreas Weber)

Ein Blick ins Klassenzimmer zeigt, was an dieser Schule anders läuft: Mathelehrer Andreas Weber, ein kräftiger Mann mit Jeans und Kapuzenpulli, zeichnet quadratische Funktionen an die Tafel. Fünf Jungs – zum Teil mit Tattoo und Piercing – versuchen, die Punkte auf der Symmetrieachse auszurechnen. „Alles klar?“, fragt der Lehrer. Hakan (Name geändert) schüttelt den Kopf: „Ich verstehe nur Bahnhof.“ – „Okay“, erwidert Weber gut gelaunt. „Alles noch mal von vorn.“ Er malt eine Welle an die Tafel, wendet sich an Ben (Name geändert). „Du warst doch in der 11. Klasse. Hast du sowas schon mal gesehen?“ Der Schüler lacht heiser: „Das ist zehn Jahre her.“ Schritt für Schritt erklärt der Lehrer alles erneut: „Gibt es noch Fragen dazu?“ Hakan nickt: „Ja! Es ist, als würdest du eine andere Sprache sprechen.“ Weber lässt die Kreide fallen, lacht: „Alles gut.“ Und beginnt noch einmal von vorne. So oft wie nötig. „Es kann sein, dass es für manche langweilig ist“, sagt Weber. „Aber es kommt darauf an, jeden hier mitzunehmen.“

Tim (Name geändert), 20, kommt im Unterricht gut mit. Bis zur Oberstufe sei er ein Leistungsschüler gewesen, berichtet der junge Mann mit den blonden Stoppelhaaren. Das änderte sich schlagartig: Der Teenager geriet an die falschen Freunde, fing an zu kiffen, schwänzte die meiste Zeit. „Wenn man kifft, ist einem vieles egal“, sagt Tim. „Man stumpft komplett ab.“ Er wiederholte zweimal die 11. Klasse, beging einen Raubüberfall und wurde auf Bewährung verurteilt. Nach Drogenentzug und Therapie lebt er jetzt in einer Wohngruppe in Frankfurt, weit weg von Zuhause – und wagt einen neuen Anlauf. „Ich bin sehr froh, dass ich hier bin“, betont Tim. Djago gesteht: „Wenn ich ehrlich bin, gehe ich immer noch nicht gern zur Schule. Aber hier ist jeder einzelne Lehrer mit Herzblut dabei.“ Er kenne keinen anderen Ort, sagt der 34-Jährige, an dem die Schülerinnen und Schüler so viel Hilfe bekämen – selbst wenn sie rückfällig würden.