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Bundestagswahl 2021

Früher und gezielter fördern

„Früh übt sich, was ein Meister werden will“ – was Friedrich Schiller vor mehr als 200 Jahren in seinem Drama „Wilhelm Tell“ formulierte, hat inzwischen auch die Bildungspolitik erreicht. Sie investiert mehr denn je in die frühkindliche Bildung.

Der Bund hat in den vergangenen Jahren viel Geld in den Ausbau der frühkindlichen Bildung gesteckt. Doch nach wie vor besteht sowohl bei der Qualität der Angebote und der Ausbildung als auch der Zahl der pädagogischen Fachkräfte in den Einrichtungen erheblicher Nachholbedarf. (Foto: Kay Herschelmann)

Es darf als sicher gelten, dass die Entscheidung, mehr Geld in jene Einrichtungen zu stecken, in denen die Basis für Chancengleichheit gelegt wird, nicht auf Schillers klugen Worten basiert. Eher kann man es als eigenes Drama einstufen, dass es so lange dauerte, bis auch dem Letzten klar wurde, dass in den Kitas die Grundlagen für Lern- und Lebensbiografien gelegt werden. Björn Köhler, GEW-Vorstandsmitglied Jugendhilfe und Sozialarbeit: „Das aber kann nur mit ausreichend und entsprechend qualifiziertem Personal gelingen.“ Seiner Ansicht nach mangelt es an beidem. Und so ist noch ein gutes Stück des Weges zu gehen, bis sich eventuell die Hoffnung des 1986 ermordeten schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme erfüllt: „Weil unsere Kinder unsere einzige reale Verbindung zur Zukunft sind und sie die Schwächsten sind, gehören sie an die erste Stelle der Gesellschaft.“

Kombiniert mit den Gedanken und Analysen des US-amerikanischen Wirtschaftsökonomen und Nobelpreisträgers James J. Heckman kann dies nur bedeuten: Die frühkindliche Bildung muss besser finanziert werden. Heckmans zentrale Aussage lautet: Je früher und gezielter in die Förderung von Kindern investiert wird, desto wirksamer ist diese und desto mehr zahlen sich die Bildungsinvestitionen einer Gesellschaft aus. Er betont, dass davon besonders Kinder in sozial benachteiligten -Lebensverhältnissen profitieren. Denn sie liefen Gefahr, ihre kognitiven Potenziale nicht ausschöpfen zu können. Die vom Staat zu tragenden Folgekosten nicht zu vergessen.

Akademisierung nötig

Heckman weist aber auch darauf hin, dass der ökonomische Ertrag der Bildungsinvestitionen entscheidend von der Qualität der Förderangebote abhängt. Hier gibt es in Deutschland aber durchaus noch viel Luft nach oben. Köhler: „Wir benötigen mehr gut ausgebildete Fachkräfte, auch Kindheitspädagoginnen und -pädagogen, weil sonst die Gefahr besteht, dass man mehr betreut als bildet. Das wird dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Kitas aber nicht gerecht.“ Er weist darauf hin, dass in nahezu allen anderen europäischen Ländern Erzieherinnen und Erzieher studiert haben. Ein Studium befähige die Fachkräfte, einen anderen Blick auf Bildungssituationen einzunehmen und so Teams zu bereichern.

Die Zahl der Studierenden im Bereich der Kindheitspädagogik ging in den vergangenen Jahren zwar deutlich nach oben. So nahmen 2017, im Jahr der jüngsten Erhebung, 3.481 junge Menschen dieses Studium mit dem Ziel Bachelor an einem der bundesweit 55 Standorte auf. 2.410 beendeten im gleichen Jahr ihr Studium erfolgreich. Damit aber machen sie nur einen Bruchteil der jährlichen Ausbildungen aus, die zur Arbeit in einer Kita befähigen. 2017 starteten insgesamt 38.274 Menschen mit ihrer Ausbildung zur Erzieherin beziehungsweise zum Erzieher.

„Aus der Funktion Kita-Leitung muss eine Profession mit umfassenden Kompetenzen werden, auf die Menschen sich gezielt vorbereiten können.“ (Björn Köhler)

Nach Ansicht Köhlers müsse es selbstverständlich werden, dass sich das gesamte pädagogische Personal berufsbegleitend, von der Arbeit freigestellt und mit Unterstützung des Arbeitgebers akademisieren und weiterbilden könne. „Das aber hängt derzeit noch viel zu stark vom Gutdünken der Arbeitgeber ab.“

Für besonders wertvoll hält er die Reflexion der eigenen Kindheit im Rahmen der Ausbildung, unabhängig von der Wahl des Ausbildungsweges. „Nur wer sich selbst und seine Erfahrungen in der Familie, in der Kita und Schule hinterfragt, kann mit einem freien, auch von wissenschaftlichen Erkenntnissen getragenen Blick erfolgreich seinem Bildungs- und Erziehungsauftrag in der Kita gerecht werden.“ Erforderlich seien, neben der Verbesserung der Rahmenbedingungen, bessere persönliche Entwicklungsmöglichkeiten – etwa durch eine vom Arbeitgeber unterstützte Fort- oder Weiterbildung.

Eine entsprechende Qualifikation müsse sich grundsätzlich auch auf das Gehalt auswirken, fordert Köhler. Im Vergleich zu vielen Berufen mit ähnlich langer Ausbildung und hoher Qualifikation seien die Gehälter der sozialen Berufe immer noch deutlich zu niedrig. Es bedürfe dringend einer besseren Anerkennung durch die Gesellschaft. Köhler: „Die Frage muss sein: Was ist uns die Bildung unserer Kinder wert?“

Sein Augenmerk richtet sich dabei besonders auch auf die Kita-Leitungen. „Ihre Aufgaben haben sich in unglaublichem Maße verändert. Daher benötigen wir unbedingt eine Professionalisierung. Aus der Funktion Kita-Leitung muss eine Profession mit umfassenden Kompetenzen werden, auf die Menschen sich gezielt vorbereiten können“, sagt das GEW-Vorstandsmitglied.

Personalbedarf steigt weiter

Neben der Qualität der Ausbildung besteht nach Köhlers Überzeugung auch erheblicher Handlungsbedarf bei der Zahl der Erzieherinnen und Erzieher. „Nach wie vor bilden die Länder nicht ausreichend aus, auch wenn aktuell der höchste Stand seit zehn Jahren erreicht wird. Wir brauchen eine gemeinsame Anstrengung von Bund, Ländern und Kommunen, um die Ausbildung und die Arbeit attraktiver zu machen. Dazu gehört auch, die Ausbildungskapazitäten zu steigern“, so Köhler.

Laut offizieller Erhebung des Statistischen Bundesamtes arbeiten in Deutschland aktuell rund 700.000 Menschen als pädagogisches Personal. Doch sie reichen bei weitem nicht aus: Allein zwischen 2007 und 2018 hat sich die Zahl der Kinder in den Einrichtungen laut Fachkräftebarometer um 20 Prozent erhöht. Hinzu kommt der demografische Faktor. 2018 gehörten 29 Prozent des Personals der Gruppe der über 50-Jährigen an. Angesichts dieser Entwicklung geht die GEW davon aus, dass der Personalbedarf in Kitas perspektivisch auf rund eine Million steigen wird.

100.000 zusätzliche Kräfte wären sofort erforderlich, um den Personalschlüssel zu verbessern. Notwendig ist dies vor allem in Bundesländern wie Mecklenburg-Vorpommern, in denen der Personalschlüssel besonders schlecht ist. Im Nordosten arbeitet laut dem Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme der Bertelsmann Stiftung von 2020 in den Kitas rechnerisch eine pädagogische Fachkraft mit 13 Kindern. Wissenschaftlich empfohlen wird ein Schlüssel von 1 zu 7. Köhler lehnt es ab, eine Erhöhung des Personalbestands etwa durch eine Verkürzung der Ausbildung zu erreichen: „An der Qualität darf nicht gespart werden.“

Ausbildung attraktiver machen

Das Interesse an einer pädagogischen Tätigkeit steige zwar erfreulicherweise, sagt der GEW-Experte. Doch noch sei an einigen Stellschrauben zu drehen, um deren Attraktivität weiter zu erhöhen. Dazu zähle auch, die Praxisintegrierte Ausbildung (PiA) auszuweiten. Reizvoll an dieser seien die enge Verzahnung von Theorie und Praxis sowie die seit zwei Jahren tariflich geregelten Gehälter.

PiA habe dazu beigetragen, die Männerquote in Kitas ein wenig zu steigern. Dennoch sei diese nach wie vor viel zu niedrig. Es fehlten männliche Bezugspersonen. Als wichtiger stuft Köhler allerdings ein, dass PiA Quer- und Seiteneinsteigerinnen sowie -einsteigern eine gute Ausbildung biete, die mit dem eigenen Gehalt finanziert werden könne. Für alle Wege der Ausbildung gelte: Es müsse eine Ausbildungsvergütung gezahlt werden, um die Attraktivität zu erhöhen.

Vom „Gute-Kita-Gesetz“, das 2019 eingeführt wurde, hält Köhler nicht viel. Zum einen seien die Gelder nur bis 2021 befristet. Zudem vermissten viele Kolleginnen und Kollegen in den Einrichtungen eine spürbare Qualitätsverbesserung. „Unsere Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten: Das Geld kommt in der Praxis kaum an“, so Köhler. Stattdessen fordert er ein echtes Kita-Qualitätsgesetz, das bundesweite Standards schafft, etwa bei der Fachkraft-Kind-Relation, Freistellung von Leitungskräften und durch angemessene Vor- und Nachbereitungszeiten von mindestens 25 Prozent der vertraglich vereinbarten Arbeitszeiten. Nur so sei eine bundesweite Angleichung der Qualität und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu erreichen.