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GEW kommentiert Urteil zum WissZeitVG

„Freibrief für grundlose Befristungen“

Die GEW kritisiert den unbestimmten Qualifizierungsbegriff des Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) und fordert eine zügige Reform.

Foto: Shutterstock / GEW

Im Rechtsstreit um eine mehrfach befristete Stelle einer Diplomingenieurin
hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in der Revision entschieden, dass die Befristung rechtens ist. Das BAG bestätigt mit seiner Entscheidung eine sehr weite Auslegung des Qualifizierungsbegriffs im WissZeitVG. Die GEW fordert den Gesetzgeber auf, eine zügige Änderung des Gesetzes auf den Weg zu bringen.

„Das BAG bestätigt maximale Flexibilität der Arbeitgeber und maximale Unsicherheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.“ (Andreas Keller)

Das BAG kommt zu dem Schluss, rechtmäßig befristet sei jeder Arbeitsvertrag mit wissenschaftlichem oder künstlerischem Personal, wenn neben der Einhaltung einer Höchstbefristungsdauer „die befristete Beschäftigung zur Förderung der eigenen wissenschaftlichen oder künstlerischen Qualifikation erfolgt“. Das sei „jenseits einer angestrebten Promotion oder Habilitation auch dann der Fall, wenn mit der befristeten Tätigkeit eine wissenschaftliche oder künstlerische Kompetenz gefördert wird, die in irgendeiner Form zu einer beruflichen Karriere auch außerhalb der Hochschule befähigt“. (7-AZR-573/20 vom 02.02.2022)

„Damit bestätigt das BAG die gelebte Praxis an Hochschulen und Forschungseinrichtungen: maximale Flexibilität der Arbeitgeber und maximale Unsicherheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler“, sagte GEW-Hochschulexperte Andreas Keller.

Der Begriff „Qualifizierung“ nach dem WissZeitVG ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. In dieser Unbestimmtheit stecken die Kernprobleme in der Anwendung dieses Gesetzes.

Arbeitsvertrag fünf Mal befristet

Gegenstand der Klage – ursprünglich vor dem Arbeitsgericht Köln – war der Arbeitsvertrag einer Diplomingenieurin, die an einer Ressortforschungseinrichtung seit 2010 zum fünften Mal in Folge befristet beschäftigt war. Als fachliches Qualifizierungsziel wurde flankierend zum Arbeitsvertrag schriftlich festgehalten: Erlangung vertiefter Kenntnisse in den Themenfeldern – Betonstraßenbau/Betontechnologie. Darüber wurden weitere Qualifizierungsziele in den Bereichen Projektkompetenz, Darstellungsvermögen, Strategiekompetenz, Verhandlungs- und Überzeugungsfähigkeit sowie Kommunikations- und Informationsfähigkeit vereinbart.

BAG argumentiert mit Qualifizierungsförderung

Ein Gesetz sage nie etwas Überflüssiges, referiert das BAG die „Kleine Schule des juristischen Denkens“. In diesem Sinne habe der Gesetzgeber mit der Novelle 2016 die Befristung mit wissenschaftlichem Personal an den „strikten Vorbehalt“ gebunden, dass sie die Qualifizierung fördere. Vor 2016 habe der Gesetzgeber ohne Worte angenommen, dass Hochschulen und Forschungseinrichtungen bei befristetem Personal in bester Absicht deren Qualifizierungsinteresse selbstverständlich immer im Blick hätten.

Die erste Evaluation des WissZeitVG von 2011 habe den Gesetzgeber eines Besseren belehrt: Unsachgemäße Kurzzeitbefristungen waren die Regel, nicht die Ausnahme. Der Vorbehalt der Qualifizierungsförderung im WissZeitVG sei also eine Reaktion auf die Fehlentwicklungen in der Befristungspraxis, so das BAG.

GEW stellt Kriterien infrage

Woran aber bemisst sich konkret, ob die vereinbarte Tätigkeit die Qualifizierung fördert? Das Landesarbeitsgericht Köln hatte im Sinne der Klägerin in der zweiten Instanz entschieden, dass die Qualifizierungsziele nach WissZeitVG sich nicht bloß auf die selbstverständliche Gewinnung von Berufserfahrung beschränken dürften.

Die Diplomingenieurin hatte in ihrer Klage betont, dass sie die als Qualifizierungsziele genannten Kompetenzen aufgrund ihres Studiums und mehrjähriger Tätigkeit als Wissenschaftlerin bereits von Anfang an besaß. Das BAG hält dem nun entgegen, dass „jeglicher fachlich-inhaltlicher (Mit-)Arbeit an Forschungsprojekten ein Kompetenzzuwachs ungeachtet des bisher erreichten Kenntnisstandes immanent ist; auch liegt in ihr regelmäßig eine bewerbungstaugliche Steigerung des Wissens- und Qualifizierungsniveaus.“

„Was in anderen Arbeitsbereichen als Berufserfahrung bezeichnet wird, wird in der Wissenschaft zu ‚Qualifizierung‘ und darf befristet werden.“ (Andreas Keller)

GEW-Vize Andreas Keller zieht aus diesem Urteil das Fazit: „Was in anderen Arbeitsbereichen als Berufserfahrung bezeichnet wird, wird in der Wissenschaft zu ‚Qualifizierung‘ und darf befristet werden. Hochschulen und Forschungseinrichtungen haben damit einen weitreichenden gesetzlich verankerten Spielraum, wissenschaftliches Personal mit Daueraufgaben in Forschung, Lehre, Wissenschafts- oder Projektmanagement befristet einzustellen. Dass sie bereit sind, diesen Spielraum systematisch auch gegen die tatsächlichen individuellen Qualifizierungsinteressen der befristeten Beschäftigten – namentlich Promotion und Habilitation oder gleichwertige Qualifizierungen – und zugunsten ihrer institutionellen und finanziellen Flexibilität zu missbrauchen, beobachten wir seit Jahren. In dieser Form ist das Gesetz ein Freibrief für grundlose Befristungen von Beschäftigten mit Daueraufgaben.“

„Wir brauchen eine radikale Reform des Befristungsrechts in der Wissenschaft!“ (Andreas Keller)

An kurzen Laufzeiten und unvermindert hohen Befristungsquoten hat die WissZeitVG-Novelle von 2016 praktisch nichts geändert, habe Freya Gassmann in ihrer Evaluation für die GEW bereits vor zwei Jahren nachgewiesen.

„Wenn nun endlich am 20. Mai die Ergebnisse der offiziellen, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in Auftrag gegebenen Evaluation mit zweijähriger Verzögerung vorliegen, gibt es keine Ausreden mehr: Wir brauchen eine radikale Reform des Befristungsrechts in der Wissenschaft! Und die kann es ohne eine Engführung des Qualifizierungsbegriffs nicht geben“, so Keller abschließend.