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Brasilien

Fahnenappell auf dem Schulhof

Jair Bolsonaro ist als Präsident Brasiliens abgewählt worden, aber unter den Folgen seiner Politik wird das Land noch lange leiden. Ein Beispiel sind die zivil-militärischen Schulen, in denen Kinder und Jugendliche gedrillt werden.

2019 wurde die zivil-militärische Schule „Carioca“ in Rio de Janeiro eingeweiht. (Foto: Gudrun Fischer)

Vierhundert Kinder stehen aufgereiht in Schuluniform vor einem Oberst. Er ruft Befehle. Sie schlagen die Hände an die Hosennaht. Es ist Fahnenappell an der Kennedy-Schule in Rolândia im brasilianischen Bundesstaat Paraná im Süden Brasiliens. Dann scheppert es aus einem Verstärker und die Nationalhymne erklingt. Die Kinder singen mit. Der Fahnenappell dauert eine halbe Stunde, die Kinder stehen bewegungslos in der heißen Sonne. Zivile Vize-Direktorin der Kennedy-Schule ist die Mathematiklehrerin Giovanna Barris. Sie sagt: „Immer wenn jetzt ein Kind an der Schule ungehorsam ist, wenden wir uns an die Militärs.“

„Wer in einem Aufzug in der Schule erscheint, der diesen Normen nicht entspricht, hat disziplinarische Maßnahmen zu erwarten.“ (Handbuch)

Die Einführung „zivil-militärischer“ öffentlicher und kostenloser Schulen war ein wichtiges Wahlversprechen von Jair Bolsonaro für seine rechts-konservative Anhängerschaft. Eine dieser Schulen ist die Kennedy-Schule. Vorher war die Einrichtung eine gewöhnliche öffentliche Schule, nun patrouillieren Militärs über die Gänge und im Pausenhof. Giovanna Barris blättert in einem Heftchen. Es ist das Handbuch für die neuen Regeln an zivil-militärischen Schulen. Darin stehen Sätze wie: „Die Uniform ist ein tragendes Element im Leben eines Schülers. Er darf sich mit dieser Uniform nicht auf den Boden, Treppenstufen oder Tische setzen.“ Oder: „Bei den Jungen muss der Haarschnitt die Ohren frei lassen. Bei den Mädchen müssen längere Haare zu einem Dutt oder Pferdeschwanz gebunden werden.“ Tattoos, Piercings, bunte Haare oder auffälliger Nagellack sind verboten. „Wer in einem Aufzug in der Schule erscheint, der diesen Normen nicht entspricht, hat disziplinarische Maßnahmen zu erwarten.“

Militarisierte Schulen bekommen mehr Mittel

Das Handbuch ist 2019 vom Bildungsministerium in Brasilia entworfen worden. 216 Schulen dieses Typs hat Bolsonaro in den letzten vier Jahren ins Leben gerufen. Während Schulen und Universitäten überall sonst die Mittel gestrichen wurden, stellte die brasilianische Regierung 2020 und 2021 den neuen militarisierten Schulen 60 Millionen Reais bereit, etwa zwölf Millionen Euro. Die Hälfte davon verschlang allein die Bezahlung der Militärs. An den Schulen arbeiten ausschließlich bereits pensionierte Militärangehörige. Zusätzlich zu ihrer Pension bekommen sie eine Aufwandsentschädigung, die höher ist als das durchschnittliche Gehalt einer Lehrerin oder eines Lehrers. Bei diesem Schultypus sei die Leitung geteilt, erläutert Giovanna Barris. Das zivile Personal übernehme den Unterricht. „Die Militärs kümmern sich um die Abläufe, die Disziplin, das Absingen der Nationalhymne. Sie geben die Kommandos, lassen an- und abtreten.“

„Sie dürfen nicht rauchen, keinen Alkohol trinken, sie dürfen eine bestimmte Musik nicht hören, die aufrührerische Texte hat. Sie dürfen im Schulhof nicht dazu tanzen.“ (José Luís de Oliveira)

Die militärische Leitung der Kennedy-Schule hat Oberst José Luís de Oliveira. Er absolvierte zur Vorbereitung ein zweiwöchiges Seminar. „Wir dienten 35 Jahre lang bei der Militärpolizei. Da ging es um Kriminalität. Jetzt haben wir an der Schule eine andere Klientel. Die Schülerinnen und Schüler stehen am Anfang ihres Lebens. Wir können sie nicht so autoritär ansprechen, wie wir das mit Verdächtigen auf der Straße getan haben.“ Dennoch sei die Kontrolle von Schülerinnen und Schüler wichtig, sagt der Oberst. „Sie dürfen nicht rauchen, keinen Alkohol trinken, sie dürfen eine bestimmte Musik nicht hören, die aufrührerische Texte hat. Sie dürfen im Schulhof nicht dazu tanzen.“

Bolsonaros Schulen für ärmere Eltern attraktiv

Seit 37 Jahren ist die Militärdiktatur in Brasilien beendet, aber der noch amtierende Präsident Jair Bolsonaro steht für eine Renaissance des Militärs. Während seiner Amtszeit besetzte er über 6.000 Schlüsselpositionen in Staat und Verwaltung mit Armeeangehörigen. Einer davon ist General Eduardo Pazuello, der ohne medizinische Kenntnisse in der schlimmsten Zeit der Corona-Pandemie den Posten des Gesundheitsministers inne hatte.

Die neuen zivil-militärischen Schulen Brasiliens wurde den Eltern und Kindern allerdings nicht aufgezwungen. Die Eltern und Angestellten der Schulen durften abstimmen, die Mehrheit votierte dafür. Normale öffentliche Schulen, die 80 Prozent der Kinder Brasiliens besuchen, haben einen schlechten Ruf. Reichere Eltern schicken ihre Kinder auf teure private Schulen. Durch die bessere Ausstattung sind Bolsonaros Schulen gerade für ärmere Eltern attraktiv.

Parolen-Eklat beim Fahnenappell

Zu ihnen gehört Monica Vilanova. Da sie nicht genug Geld für eine Privatschule hatte, gab sie ihre elfjährige Tochter auf die 2019 eingeweihte zivil-militärische Schule „Carioca“ in Rio de Janeiro. Anfangs war sie begeistert. Sie gründete einen Elternverein und kämpfte um eine Schuluniform. Man entschied sich für einen kobaltblauen schweren Stoff. Daraus entstanden lange Hosen für die Jungs und knielange Hosenröcke für die Mädchen. An der Seitennaht ein roter Streifen. Dazu kam ein weißes Hemd und ein rotes Barett.

„Wir können etwas und andere nicht. Wir sind wir und der Rest ist der Rest.“

Im ersten Jahr verlief der Unterricht wegen der Corona-Pandemie online. Doch gleich am ersten Präsenztag im Mai 2021 kam es an der Schule zum Eklat. Einer der Militärs rief beim Fahnenappell folgende Parole: „Wir können etwas und andere nicht. Wir sind wir und der Rest ist der Rest.“ Zum Abschluss kam ein Spruch, der einer Wahlkampfparole von Jair Bolsonaro gleicht. Die Kinder und Jugendlichen mussten dem Militär die Parolen nachsprechen. Als die Lehrerinnen- und Lehrer-Gewerkschaft von Rio de Janeiro ein Video von diesem Fahnenappell zugeschickt bekam, legte sie bei der Staatsanwaltschaft Klage wegen Indoktrinierung ein. Die Schulbehörde berief daraufhin das zivile Direktorium der Schule ab.

Übergriffe und Gewaltandrohungen

Nach dem Parolen-Eklat stufte die Schulbehörde Rio de Janeiros die Anweisungen aus dem Handbuch zu Kann-Bestimmmungen herab. Immer weniger Kinder trugen daraufhin die neue Uniform. Im Unterricht kamen zudem die Rechte der LGBT-Community zur Sprache. Monica Vilanova ist enttäuscht. „Nur wir Eltern dürfen mit unseren Kindern über solche Themen sprechen. Diese Art Werte darf eine Schule nicht unterrichten“, sagt sie. Inzwischen hat Monica Vilanova ihre Tochter aus der Schule herausgenommen.

In den letzten vier Jahren gab es etliche Berichte von Übergriffen und Gewaltandrohungen durch Militärs an zivil-militärischen Schulen in ganz Brasilien. Einige Übergriffe waren zudem sexualisierte Angriffe auf Mädchen. Viele dieser Übergriffe haben nun gerichtliche Nachspiele. Wie es mit den Schulen weitergehen wird, ist offen. Ende Oktober setzte sich zwar Luiz Inácio „Lula“ da Silva in der Stichwahl gegen Jair Bolsonaro durch. Im Wahlkampf versprach der ehemalige Gewerkschafter, nach seinem Amtsantritt am 1. Januar 2023 die zivil-militärischen Schulen abzuschaffen, doch Bolsonaros Schatten ist lang, wie nicht zuletzt das knappe Ergebnis der Präsidentschaftswahl zeigte.