Dieser Dialog wurde unter dem Dach der Europäischen Union 2010 von den europäischen Bildungsgewerkschaften (European Trade Union Committee for Education - ETUCE - als europäische Region der Bildungsinternationale) und der Europäischen Vereinigung der Bildungsarbeitgeber (European Federation of Education Employers - EFEE) gegründet. Die Europäische Kommission ist verpflichtet, in Bildungsfragen das gemeinsame Komitee der europäischen Bildungsgewerkschaften und Bildungsarbeitgeber anzuhören. Vereinbarungen des Komitees kann sie in ihre Beschlüsse einbeziehen. Auf deutscher Seite ist die GEW für die Bildungsgewerkschaften Mitglied des ETUCE und am Sozialdialog beteiligt. Für die Bildungsarbeitgeber war die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) bis Ende 2013 beteiligt, hat dann aber ihren Austritt aus dem Arbeitgeberverband EFEE erklärt. Seitdem ist der deutsche Stuhl der Bildungsarbeitgeber im Sozialdialog nicht besetzt.
Als Ergebnis eines 2013 gestarteten gemeinsamen Projekts zu den Perspektiven der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Qualifizierung ("early career researchers") haben die europäischen Bildungsgewerkschaften jetzt ihre Handlungsempfehlungen vorlegt. Unter anderem treten die europäischen Sozialpartner für Maßnahmen gegen unsichere Beschäftigungsverhältnisse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und für eine attraktivere und besser planbare Wissenschaftslaufbahn ein. Die fachliche Betreuung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Qualifizierung soll verbessert, ihre Mobilität gefördert werden, sowohl international als auch zwischen den Hochschulen und anderen Sektoren. Barrieren beim Aufstieg von Wissenschaftlerinnen sollen überwunden werden. Weiter sollen die Bildungsgewerkschaften in die Umsetzung der Empfehlungen der Europäischen Kommission für eine "Europäische Charta für Forscher" und für einen "Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern" eingebunden werden. Die Empfehlungen wurden 2005 vorgelegt, von den Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutschland werden sie nur zögerlich umgesetzt, wie die GEW aus Anlass des zehnten Jahrestages von Charta und Kodex im März 2015 kritisiert hat.
Der stellvertretende Vorsitzende und Hochschulexperte der GEW, Andreas Keller, der zugleich Vizepräsident der europäischen Bildungsgewerkschaften ETUCE ist, begrüßte die Empfehlungen der europäischen Sozialpartner. "Immer mehr Zeitverträge mit immer kürzeren Laufzeiten, lange und steinige Karrierewege - in dieser Hinsicht ist das deutsche Hochschulsystem leider unrühmlicher Vorreiter, aber auch in anderen europäischen Ländern nehmen die Probleme zu. Die Empfehlungen aus Brüssel sind Rückenwind für die Forderung der GEW, Karrierewege berechenbarer zu gestalten und Beschäftigungsbedingungen zu stabilisieren. Gleichzeitig stellen sie ein wichtiges Signal für die Bologna-Konferenz in Jerewan dar: Nicht nur die Bildungsgewerkschaften, sondern auch die Bildungsarbeitgeber machen sich für eine bessere Unterstützung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern stark. Skandalös ist, dass mit Deutschland ausgerechnet der EU-Mitgliedsstaat mit den meisten Hochschulen und Forschungseinrichtungen und mit den größten Problemen bei den Karrierewegen und Beschäftigungsbedingungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beim sozialen Dialog von Bildungsgewerkschaften und Bildungsarbeitgebern außen vor bleibt. Die deutschen Bildungsarbeitgeber dürfen sich nicht länger drücken, die Bundesländer müssen schleunigst an den Verhandlungstisch in Brüssel zurückkehren."
Stellvertretend für Deutschland nahm die Freie und Hansestadt Hamburg an dem gemeinsamen Projekt der europäischen Sozialpartner statt. Vertreterinnen und Vertreter des Hamburger Landesverbands der GEW sowie des Senats und der Universität der Hansestadt stellten sich für Interviews zur Verfügung. Der von Senat und Hochschulen mit Gewerkschaften und Personalräten ausgehandelte Hamburger "Code of Conduct" wird im Abschlussbericht als gutes Beispiel für ein gemeinsames Engagement von Gewerkschaften und Arbeitgebern für bessere Rahmenbedingungen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Qualifizierung hervorgehoben.
Bologna-Prozess und Wissenschaftskarrieren heute auch Thema im Bundestag
Die Bildungsgewerkschaft GEW hat heute die europäische Studie zur Lage der Hochschulbeschäftigten und ihre Forderungen zur Schaffung eines förderlichen Arbeitsumfelds präsentiert, am selben Tag diskutiert das Plenum des Deutschen Bundestages über den Bologna-Prozess und Wissenschaftskarrieren. Gegen 14 Uhr diskutieren die Abgeordneten den Bericht der Bundesregierung über die "Umsetzung des Bologna-Prozesses 2012 bis 2015 in Deutschland". Bereits im März 2015 hatte der stellvertretende GEW-Vorsitzende Andreas Keller aus Anlass des Regierungsberichts und der bevorstehenden Bologna-Konferenz in Jerewan eine kritische Zwischenbilanz der europäischen Studienreform gezogen und sich für einen "Kurswechsel" stark gemacht.
Außerdem berät das Bundestagsplenum in erster Lesung des Antrag der Fraktion Die Linke "Gute Arbeit in der Wissenschaft: Stabile Ausfinanzierung statt Unsicherheiten auf Kosten der Beschäftigten; Wissenschaftszeitvertragsgesetz grunderneuern". In ihrem Antrag fordert die Oppositionsfraktion die Bundesregierung auf, "in Abstimmung mit den Ländern die Politik der durch temporäre Pakte befristeten Finanzierung zu beenden und die Finanzierung in der Wissenschaft auf hohem Niveau zu verstetigen". Im Zuge dessen soll die Exzellenzinitiative eingestellt und stattdessen ein Anreizprogramm aufgelegt werden, mit dem in den nächsten zehn Jahren 100.000 Stellen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entfristet werden sollen. Weiter formuliert die Linksfraktion ihre Anforderungen an die Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes: Streichung der Tarifsperre, die Verankerung von Mindestvertragslaufzeiten, Qualifizierungsbefristung nach der Promotion nur mit Tenure Track - damit greift die Linksfraktion wichtige Impulse des von der GEW im Januar vorgelegten Gesetzentwurfs auf. GEW-Vize und Hochschulexperte Andreas Keller lobte die parlamentarische Initiative der Linken: "Zwar haben Union und SPD eine Gesetzesnovelle und einen Bund-Länder-Pakt zur Stabilisierung von Wissenschaftskarrieren vorlegt - bisher liegen aber weder ein Gesetzentwurf noch ein Pakt-Konzept vor. Es ist gut, dass die Opposition den Druck auf die Regierung erhöht."