Berufliche Bildung
Es ist viel zu tun
Die Lehrstellenbilanz des Corona-Jahres 2021 belegt erneut, wie dringlich weitere Reformen sind.
Die Zahl der jährlich neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge ist seit nunmehr 15 Jahren im dramatischen Sinkflug. 2007 wurden noch knapp 630.000 Neuverträge gezählt. 2021 waren es nur noch 473.100. Zugleich gingen im vergangenen Jahr 67.800 junge Menschen bei der Lehrstellensuche leer aus, darunter auch viele mit Studienberechtigung.
Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) weist in seiner jüngsten Analyse darauf hin, dass im vergangenen Jahr durch die Folgen der Corona-Pandemie die ansonsten in den Abschlussklassen meist übliche Berufsorientierung nahezu völlig ausgefallen ist: kaum Schulbesuche von Mitarbeitenden der Arbeitsagenturen, nur selten Betriebspraktika oder Info-Messen, keine Werbeaktionen der Kammern auf Schulhöfen. Die Zahlen deuten darauf hin, dass Hauptschülerinnen und -schüler beim Übergang in die Ausbildung besonders von den Auswirkungen der Pandemie betroffen waren.
Ihr prozentualer Anteil unter den erfolglos Suchenden stieg, obwohl die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber mit Hauptschulabschluss seit Jahren rückläufig ist. Zugleich ist der weitere Verbleib Zigtausender junger Menschen nach ihrem Schulabgang auch diesmal völlig offen. Sie meldeten sich nicht bei den Arbeitsagenturen.
„Die Anforderungen im Arbeitsleben an die schulische Vorbildung der jungen Menschen sind durch die Bank gestiegen. Im Grunde genommen brauchen wir ein zehntes Schuljahr für alle und die Mittlere Reife als einzigen Standardabschluss.“ (Ralf Becker)
Die Pandemie hat die seit Jahren bestehenden Strukturprobleme in der beruflichen Bildung weiter verschärft, sie ist jedoch nicht allein die Ursache für die gegenwärtige Lage. Die „Passungsprobleme“ auf dem Ausbildungsmarkt – also Betriebe mit ihren jeweiligen gewachsenen Qualifikationsanforderungen und junge Menschen mit ihren individuellen Wünschen und Erwartungen zusammenzubringen – haben auch 2021 erneut zugenommen. 63.200 von Industrie, Handel, Handwerk und Verwaltung angebotene Ausbildungsstellen blieben diesmal unbesetzt. Das ist ein neuer Rekordwert.
Ralf Becker, in der GEW für die berufliche Bildung verantwortlich, sagt: „Die Anforderungen im Arbeitsleben an die schulische Vorbildung der jungen Menschen sind durch die Bank gestiegen. Im Grunde genommen brauchen wir ein zehntes Schuljahr für alle und die Mittlere Reife als einzigen Standardabschluss.“ Becker verweist darauf, dass ein Auszubildender heute bei Beginn einer betrieblichen Ausbildung im Schnitt über 19 Jahre alt ist.
Reformschritte im Koalitionsvertrag
Der Bundestag hatte in der vergangenen Wahlperiode eine Enquetekommission eingesetzt, die sich mit dem Reformbedarf in der beruflichen Bildung beschäftigte. Zu einer staatlichen Ausbildungsgarantie, wie sie bereits in Österreich erfolgreich praktiziert und von GEW und DGB auch für Deutschland gefordert wird, konnte sich die Enquetekommission damals noch nicht durchringen. Jetzt steht die Forderung nach einer Ausbildungsgarantie für alle Schulabgängerinnen und -abgänger im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Becker: „Auch wenn Finanzierung und Modalitäten bisher noch unklar sind, ist das ein wichtiger Schritt. Die Gewerkschaften werden alles daransetzen, dass die Ausbildungsgarantie vernünftig umgesetzt wird.“
Im Koalitionsvertrag werden weitere Reformschritte angekündigt, um den künftigen Fachkräftebedarf zu sichern: etwa der Ausbau ausbildungsbegleitender Hilfen und assistierter Ausbildung sowie Verbundausbildungen und tariflich vereinbarte Ausgleichsfonds. In Regionen mit erheblicher Ausbildungsplatz-Unterversorgung sollen „in enger Absprache mit den Sozialpartnern“ außerbetriebliche Ausbildungsangebote initiiert werden. Die Ausbildungsmobilität junger Menschen soll gefördert werden. „Vollzeitschulische Ausbildung muss vergütet und frei von Schulgeld sein“, heißt es weiter.
Die Regierung plant zudem eine Exzellenzinitiative Berufliche Bildung. Auch sollen die Begabtenförderungswerke des Bundes für die berufliche Bildung geöffnet werden. Gleichwertige berufliche Qualifikationen sollen im Laufbahnrecht des Bundes für höhere Karrierewege anerkannt werden. Becker: „Es ist wirklich viel zu tun. Mit dem Koalitionsvertrag wird der Reformbedarf der beruflichen Bildung endlich anerkannt.“
Der jüngste BIBB-Bericht macht zudem auf ein interessantes Phänomen aufmerksam. Während die Wirtschaft offen um mehr Abiturientinnen und Abiturienten sowie andere Studienberechtigte in der beruflichen Bildung wirbt, bietet sie bisher für diese Gruppe viel zu wenige attraktive Ausbildungsplätze an. Über 106.000 Studien-berechtigte haben sich im vergangenen Jahr bei den Arbeitsagenturen um einen betrieblichen Ausbildungsplatz beworben. Doch die Unternehmen hatten für diese Qualifikationsgruppe lediglich 37.000 adäquate Plätze ausgewiesen.