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Mobbing

Es gibt keine Unbeteiligten

Wie wird man zum Täter, wie zum Opfer? Welche Rolle spielen die Mitläufer und Zuschauer beim Mobbing? Ein Gespräch mit Kaj Buchhofer von der Beratungsstelle Gewaltprävention der Schulbehörde Hamburg.

Foto: Pixabay / CC0
  • E&W: Herr Buchhofer, wie entsteht in einer Klasse Mobbing?

Kaj Buchhofer: In einer Testphase tasten sich die Täter vor: Wen kann ich hier leicht provozieren? Wie reagieren die anderen? Im Laufe eines Mobbingprozesses verschiebt sich langsam das Normengefüge in der Klasse: Was ist erlaubt, was nicht? Da heißt es bei dummen Sprüchen plötzlich zum Beispiel: „Ach, das war doch nur Spaß.“ So festigt sich Schritt für Schritt ein Mobbingsystem. Meist gibt es dabei ein, zwei Haupttäter, eine Reihe von Mitläufern, die mitmachen, lachen, ermutigen und eine Mehrheit, die zuschaut.

  • E&W: Was treibt die Täter an?

Buchhofer: Meist haben sie zu Hause oder in der Schule gelernt, dass sie mit Gewalt weiterkommen. Es entwickelt sich ein Verhaltensmuster. Mobbing gibt ihnen Macht, eine Führungsposition, manchmal lenkt es von anderen Problemen ab. Wichtig ist zu fragen: Welchen Nutzen hat das Kind vom Mobbing?

  • E&W: Wann wird jemand zum Mobbingopfer?

Buchhofer: Wenn eine Gruppe es zulässt. Sonst nie. Diese Position ist für mich eine unverzichtbare pädagogische Haltung.

  • E&W: Jeder und jede kann also Opfer werden?

Buchhofer: Absolut. Die Frage nach „typischen Mobbingopfern“ ist daher höchst gefährlich. Denn sie unterstellt indirekt, dass es Gründe im Kind, in seiner Person, seinem Verhalten gibt, die dazu führen, dass es Mobbingopfer wird. Damit wird ihm ein Teil der Schuld in die Schuhe geschoben. Der nächste Schritt ist dann nicht mehr weit: Ändere dich, dann hört das Mobbing auf.

  • E&W: Allerdings sprechen Experten durchaus von unterschiedlichen Opfertypen.

Buchhofer: Ja, grundsätzlich unterscheiden wir zwischen dem provozierenden und dem passiven Opfertyp. Die eine ist laut und aggressiv oder wird als nervend empfunden, der andere ist der zurückgezogene Außenseiter. Diese Typisierung ist sinnvoll, weil sie helfen kann, Mobbingopfer zu identifizieren.

  • E&W: Unterschätzen Lehrkräfte ihren Einfluss auf Mobbing manchmal?

Buchhofer: Tatsächlich ist Lehrkräften oft nicht bewusst, dass sie indirekte -Signale senden. Gerade bei provozierenden Opfertypen leisten sie einer Ausgrenzung manchmal sogar Vorschub. Aggressive Opfertypen stressen, sie kosten Kraft im pädagogischen Alltag. Wenn Lehrkräfte genervt auf sie reagieren, mit den Augen rollen oder sie vor der Klasse anfahren, vermitteln sie: Schaut, mit dem darf man sowas -machen.

  • E&W: Beim Thema Mobbing stehen meist Täter und Opfer im Fokus. Welche Rolle spielen die Mitläufer und -Zuschauer?

Buchhofer: Die Arbeit mit ihnen ist Kernstück jeder Prävention. Weil sie die größte Gruppe in der Klasse bilden, sind sie der beste Hebel für Vorbeugung. Sie müssen wir stärken.

  • E&W: Warum schauen viele Schülerinnen und Schüler bei Mobbing tatenlos zu?

Buchhofer: Oft ist es ein Mix verschiedener Motive. Manche sind belustigt, viele verunsichert und haben Angst, selbst zum Opfer zu werden. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist ein ungeheuer wichtiges menschliches Grundbedürfnis, das dürfen wir nicht unterschätzen.

  • E&W: Gibt es auch bei den Zuschauern unterschiedliche Typen?

Buchhofer: Wir unterscheiden zwischen Mitläufern, die ab und an auch mitmischen, Duldern, die es einfach geschehen lassen, und ehemaligen Freunden des Opfers, die sich verunsichert abwenden, wenn ihr Kumpel schikaniert wird. Sie treffen den Freund oder die Freundin – wenn überhaupt – nur noch heimlich am Wochenende.

  • E&W: Wie ermutigt man die Mitläufer und Zuschauer, ihr Verhalten zu ändern?

Buchhofer: Zum Beispiel indem Lehrkräfte in Kleingruppen das Gespräch suchen: Was war eure Rolle? Was könnt ihr tun, damit es dem betroffenen Kind besser geht? Morgens Hallo sagen, mittags mit an den Tisch setzen, gemeinsam die Pause verbringen. Sich mit anderen aus der Klasse gegenseitig ermutigen, etwas zu tun. Vorkommnisse aufschreiben oder Screenshots machen. Wenn möglich, dazwischen gehen, Stopp sagen! Hilfe holen bei Erwachsenen. Dies ist bei Mobbing kein Petzen, sondern dient der Gerechtigkeit.

  • E&W: Wie können Lehrkräfte dem Mobbingopfer selbst helfen?

Buchhofer: Zunächst müssen sie unmissverständlich zeigen: Wir nehmen dich ernst, und es gibt keinen Grund für Scham. Dann sollten sie klar signalisieren: Wir helfen dir, aber nie über deinen Kopf hinweg. Du gibst zu jedem Schritt das Okay, wir stehen an deiner Seite.

  • E&W: In Hamburg hat die Beratungsstelle Gewaltprävention mit der Techniker Krankenkasse das bundesweite Anti-Mobbing-Projekt Gemeinsam Klasse sein entwickelt, das soeben völlig neu überarbeitet wurde. Was bieten Sie den Schulen an?

Buchhofer: Wir stellen Schulen Erklärvideos, Arbeitsblätter, Übungen und Rollenspiele rund um die Themen Mobbing und Cybermobbing zur Verfügung, mit denen sie Projekttage in der 5. Klasse veranstalten können.

  • E&W: Wird dabei auch speziell die große Gruppe der Zuschauer angesprochen?

Buchhofer: Sie ist sogar immens wichtig. In einem Film etwa sind die Hauptpersonen eine Schülerin, die gemobbt wird, und ihre Freundin Mia, der Mitschüler drohen: Wenn du die zu deinem Geburtstag einlädst, kommen wir nicht. Danach werden die Schüler gefragt: Was kann Mia tun? In Rollenspielen reflektieren sie das und spielen es durch. Dabei lernen sie: Alle können und müssen etwas gegen Mobbing tun, es gibt keine Unbeteiligten.

  • E&W: Kann sich jede Lehrkraft in Eigenregie bei Ihnen melden?

Buchhofer: Nein, die Schule muss sich als Ganzes anmelden. Denn ohne dass sich eine Schule zu einem nachhaltigen, in der Schulstruktur verankerten Umgang mit Mobbing verpflichtet, funktioniert es nicht. Anschließend bilden wir Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter für die Arbeit vor Ort fort.

  • E&W: In welchem Alter ist Mobbingprävention sinnvoll?

Buchhofer: Grundsätzlich in jedem. Besonders wichtig ist Präventionsarbeit allerdings, wenn sich neue Lerngruppen bilden, zum Beispiel wie in fast allen Bundesländern zu Beginn der weiterführenden Schule in Klasse 5. In dieser Phase sortieren sich Beziehungen, es entscheidet sich, wie die Schülerinnen und Schüler miteinander umgehen.

Kaj Buchhofer