Berufliche und akademische Bildung
Erst die Arbeit – und dann?
Ein Leben lang im erlernten Ausbildungsberuf zu arbeiten, ist nicht immer erfüllend. In Lüneburg bietet ein Studiengang Erzieherinnen und Erziehern die Möglichkeit, sich neben ihrem Job für neue Berufsfelder zu qualifizieren.
Gut zwei Jahrzehnte hat Manja Günther als ausgebildete Erzieherin gearbeitet, davon 15 Jahre als stellvertretende Leiterin einer Kindestagesstätte. Eigentlich wollte sie gern ganz in die Leitungsarbeit wechseln. „Aber mein Familienleben nahm mich zu sehr in Beschlag“, sagt die 48-Jährige. Ihr zweiter Sohn kam vor 18 Jahren mit einer Behinderung zur Welt. Mittlerweile wohne er in einem Internat, und der Größere studiere, so Günther. Nun habe sie Zeit, sich in ihrem eigenen Berufsleben nochmal weiterzuentwickeln – „bevor ich 50 werde“, sagt sie und lacht.
Durch eine Freundin wurde sie auf das berufsbegleitende Studium „Soziale Arbeit für Erzieherinnen und Erzieher“ an der Leuphana Universität in Lüneburg aufmerksam und bewarb sich. Dort studiert sie nun im zweiten Semester. „Coronabedingt online, aber das läuft besser als gedacht“, berichtet die Erzieherin. Ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen seien hochmotiviert bei der Sache, das sei schon daran zu spüren, wie interessiert die Vorlesungsthemen diskutiert würden, meint Günther. Gerade beschäftige sie sich mit rassismuskritischer Sozialarbeit. „Das finde ich für meine Arbeit jetzt total wichtig und rede mit meinen Kolleginnen und Kollegen darüber, weil ich möchte, dass sich da was ändert“, berichtet die Erzieherin, die 15 Stunden pro Woche in einer Hamburger Grundschule arbeitet.
Günthers Kommilitone Heiko Praetz studiert im vierten Semester in Lüneburg und arbeitet als stellvertretender Leiter im Bereich Obdach und Asyl bei einer Gemeindediakonie. Fachliches und rechtliches Hintergrundwissen der Sozialen Arbeit werde im Studium unglaublich gut und qualitativ hochwertig vermittelt, so Praetz. Ein Beispiel: „Menschen im Asylbewerberleistungsbezug haben Anspruch auf Dolmetscherkosten für Therapiebehandlungen, sobald sie aber in den Rechtsbereich Sozialgesetzbuch (SGB) II wechseln, entfällt dieser. Das heißt, Therapien müssen abgebrochen werden, weil keine Sprachvermittlung mehr da ist. Ein Riesendilemma!“, berichtet Praetz aus seinem Arbeitsalltag. Für diese Lücke im System bekomme er im Studium Werkzeuge an die Hand, um etwa einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht zu erwirken oder Klageverfahren einzuleiten.
„Man muss gut strukturiert sein und einen Plan für sich haben – ohne den schafft man das nicht!“ (Heiko Praetz)
Als Jugendlicher schlug Praetz seinen beruflichen Weg zunächst ins Zimmererhandwerk ein, aber ein Sportunfall zwang ihn zum Umdenken. Er schnupperte in die Jugendarbeit hinein, fand Gefallen daran und machte eine zweite Ausbildung zum Erzieher, mit der er gleichzeitig die Fachhochschulreife erlangte. Heute lebt Praetz mit seiner Frau und seiner achtjährigen Tochter in Lübeck. Damit der 44-Jährige das Studium neben der Familie und seinem Vollzeitjob absolvieren kann, hat sein Arbeitgeber ihn für die Präsenzveranstaltungen freigestellt. Dennoch fällt ihm der Spagat nicht leicht: „Man muss gut strukturiert sein und einen Plan für sich haben – ohne den schafft man das nicht!“ Praetz motiviert sein konkretes berufliches Ziel: Er wolle seine fachlichen Fähigkeiten professionalisieren, um Missstände besser aufzeigen und mehr Bewegung in arbeitsbedingte Themen mit dem Schwerpunkt soziale Gerechtigkeit hineinbringen zu können.
Das Studium, das mit dem Bachelor abgeschlossen wird, qualifiziert die Absolventen dazu, in verschiedenen Feldern und Positionen der Sozialen Arbeit berufstätig zu sein. „Wer darüber hinaus hoheitliche Aufgaben übernehmen und zum Beispiel bei Jugendämtern oder in der Jugendgerichtshilfe arbeiten will und eine Eingruppierung in den gehobenen Dienst anstrebt, muss in der Regel die staatliche Anerkennung als Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterin nachweisen“, sagt Studiengangsleiterin Angelika Henschel. Das bereits in der Erzieherausbildung absolvierte Anerkennungsjahr reiche hierfür nicht aus, so die Professorin. Sie lege den Studierenden nahe, die staatliche Anerkennung nach dem Studium durch ein entsprechendes Berufspraktikum, das vergütet werden muss, zu erlangen.
In einigen Bundesländern sei diese Anerkennung durch Praxisphasen in das Studium integriert, für die die Studierenden aber nicht bezahlt würden, so Henschel weiter. Im niedersächsischen Lüneburg kann die staatliche Anerkennung auch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Das heißt, innerhalb von fünf Jahren nach Studienende muss dafür ein entsprechendes zwölfmonatiges Berufspraktikum absolviert werden. Nicht alle Studierenden sehen sich finanziell dazu in der Lage, ihre Existenz ein Jahr lang von einer Praktikantenvergütung zu sichern. „Bei entsprechender Qualifizierung durch Berufserfahrung im Feld der Sozialarbeit können sie das Anerkennungsjahr verkürzen“, hält die Professorin dagegen.
„Ich hatte immer den Wunsch, mein Wissen zu vertiefen und habe deshalb bereits verschiedene Weiterbildungen gemacht.“ (Antje Stankowski)
„Das Praktikantengehalt lässt sich auch verhandeln“, sagt Antje Stankowski. Sie studiert im letzten Semester an der Leuphana Universität und weist auf den Fachkräftemangel im Bereich der Sozialen Arbeit hin, der einen guten Verhandlungsspielraum ermögliche. Sie möchte das Berufspraktikum nutzen, um in einem neuen Arbeitsbereich Fuß zu fassen. Seit April 2019 leitet die Erzieherin eine Montessori-Kita in Lüneburg. Dort könne sie das Praktikum für die staatliche Anerkennung nicht machen, weil es niemanden mit entsprechender sozialpädagogischer Qualifikation gebe, der sie anleiten könne. Das sieht die 38-Jährige als Chance: „Nach der Ausbildung habe ich bereits gewusst, dass ich zwischen verschiedenen Berufsfeldern wechseln möchte.“
Mit 27 hat Stankowski ihre Ausbildung zur Erzieherin abgeschlossen und danach neun Jahre lang im Krippenbereich gearbeitet. Schon vor ihrer Ausbildung habe sie über ein Studium nachgedacht. „Ich hatte immer den Wunsch, mein Wissen zu vertiefen und habe deshalb bereits verschiedene Weiterbildungen gemacht.“ Auch die Inhalte des Studiengangs empfindet sie als großen Zugewinn – zum Beispiel entwicklungspsychologische Themen wie das der Lernpsychologie.
Doppelbelastung Studium und Beruf
Zum Lehrplan gehören außerdem ökonomische und politische Bedingungen Sozialer Arbeit, methodisches Handeln oder soziologische, sozialpädagogische und -medizinische Aspekte der Sozialen Arbeit. Besonders hilfreich fand Stankowski, dass durch Lehrende und Studierende aus der Praxis ganz unterschiedlich auf Themen geschaut werden konnte. „Das kam immer besonders zum Tragen, wenn wir in der Gruppe gearbeitet haben.“
Das Studium neben dem Beruf zu meistern, ist dennoch eine Herausforderung. „Wenn ich Kinder zu versorgen hätte, könnte ich das so nicht packen“, sagt Stankowski, die aufgrund ihrer Arbeitssituation in Vollzeit weiterarbeiten musste. Finanzieren konnte sie das Studium mit einem Aufstiegsstipendium des Bundes. Die 2008 eingeführte Förderung erfolgt einkommensunabhängig – Studierende in einem berufsbegleitenden Studiengang erhalten jährlich 2.700 Euro für die gesamte Dauer. Damit kann Stankowski ihre Studiengebühren bezahlen: Pro Semester fallen 1.160 Euro an, hinzu kommen Semesterbeiträge von jeweils rund 200 Euro.
Den staatlich anerkannten Erzieherinnen und Erziehern mit mindestens drei Jahren Berufserfahrung werden aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation zwei Semester pauschal anerkannt. Das heißt, sie können ihr Studium in sieben statt neun Semestern absolvieren und müssen lediglich 140 der 180 Credit Points (CP) erbringen, die für ein Bachelorstudium üblicherweise vorgeschrieben sind. Darüber hinaus können beispielsweise absolvierte Fortbildungen oder ehrenamtliches Engagement individuell anerkannt werden.
„Ich halte Aufstiegsqualifizierung insbesondere in typischen Frauenberufen aus Gleichstellungsaspekten für enorm wichtig.“ (Angelika Henschel)
Berufsbegleitend zu studieren, heißt in Lüneburg einmal pro Monat Freitag und Samstag Präsenzveranstaltungen zu besuchen. Darüber hinaus finden drei Präsenzwochen statt, die als Bildungsurlaubswochen geltend gemacht werden können. Um das Studium in der Regelstudienzeit zu schaffen, wird den Studierenden empfohlen, währenddessen in Teilzeit zu arbeiten. Insgesamt sei der Stundenaufwand durch die Struktur mit Credit Points gut kalkulierbar, meint Studiengangsleiterin Henschel. Zur Finanzierung empfiehlt sie, sich für ein Stipendium zu bewerben. In manchen Fällen würden auch Arbeitgeber das Studium finanziell unterstützen, so Henschel. Die meisten Studierenden zahlen das Studium aber aus eigener Tasche.
„Es wäre begrüßenswert, die Unterstützung auszubauen“, sagt die Professorin und führt aus: „Ich halte Aufstiegsqualifizierung insbesondere in typischen Frauenberufen aus Gleichstellungsaspekten für enorm wichtig: Unsere Gesellschaft ist nicht nur zunehmend durch Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen gekennzeichnet, sondern auch durch einen sich ständig verändernden Wissenszuwachs in der Arbeit in verschiedensten Sektoren. Gleichzeitig trifft der demografische Wandel den Bereich der Sozialen Arbeit besonders massiv, was einen großen Fachkräftemangel zur Folge hat. Schon um dem entgegenzuwirken, muss es Menschen ermöglicht werden, sich durch einen akademischen Aufstieg aus beruflichen Sackgassen heraus weiterzuentwickeln.“
Durchlässigkeit verbessern
Um die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Ausbildung zu verbessern, hat der Wissenschaftsrat 2014 eine Empfehlung herausgegeben. „Sie war als ein Appell dahingehend gemeint, dass es durchlässige Karrierewege braucht, das heißt, dass der Wechsel von einer Seite zur anderen selbstverständlich sein sollte“, erläutert Manfred Prenzel, Leiter des Zentrums für Lehrerinnen- und Lehrerbildung an der Universität Wien. Der Professor hat die Empfehlung mit herausgegeben und den Wissenschaftsrat zwischen 2014 und 2017 geleitet. Auch wenn sich die Durchlässigkeit sehr verbessert habe, müsse transparenter gemacht werden, was ein Studium für Berufstätige bedeute, so Prenzel.
Er macht deutlich: „Universitäten sollten einerseits schauen: Welche Module müssen beruflich Qualifizierte nicht mehr machen und andersherum: Welche Zusatzmodule sind für den Anschluss an das Studium notwendig.“ Zusammengefasst bedeute das: Wie können Universitäten Studiengänge für Menschen attraktiv machen, die nicht das Abitur haben?
Niedrige Abbrecherquote
Für den Studiengang in Lüneburg wurde beispielsweise zusätzlich ein Brückenkurs entwickelt, der nun auch Menschen aus anderen Berufszweigen wie Ergotherapeutinnen, Sozialassistenten oder Heilerziehungspflegerinnen einen Hochschulzugang ermöglichen soll. So können die Teilnehmenden nicht nur herausfinden, ob sie sich dem akademischen Studium gewachsen fühlen, sondern zugleich eine Zugangsberechtigung erlangen: Wer den Brückenkurs erfolgreich absolviert, bekommt damit die notwendigen 40 CP, um sich für das Bachelorstudium Soziale Arbeit zu bewerben.
Henschel hat den Studiengang im Rahmen der Bundesförderrichtlinie „Aufstieg durch Bildung“ gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen kontinuierlich weiterentwickelt. Sie lehrt auch in grundständigen Studiengängen und hat die Erfahrung gemacht, dass die Studierenden in den berufsbegleitenden Studiengängen besonders motiviert und zielgerichtet durch die akademische Ausbildung gehen. Entsprechend niedrig ist die Abbrecherquote. Von den 40 Studierenden, die sich jedes Jahr für das Bachelorstudium Soziale Arbeit in Lüneburg einschreiben können, brechen durchschnittlich drei bis vier vorzeitig ab. Seit der Studiengang 2011 an den Start ging, ist er immer ausgebucht.
Studentin Günther absolviert gerade ihr Orientierungspraktikum, das zu den Inhalten des zweiten Semesters gehört, in einer staatlich geförderten unabhängigen Teilhabeberatung. Damit hat die gelernte Erzieherin neben ihrer jahrelangen Arbeitserfahrung auch die besondere Verantwortung für ihren Sohn mit in den Beruf nehmen können: Sie berät Menschen mit Behinderung und deren Angehörige – ein Aufgabenfeld, in dem sie nach dem Studium arbeiten möchte.