Literatur im Unterricht
Erika statt Thomas Mann
Eine Berliner Deutschlehrerin engagiert sich dafür, dass in der Schule nicht immer nur Literatur, die Männer geschrieben haben, gelesen wird: Sie rückt die Autorinnen in den Fokus.
Als Annette Vanek vor rund zwei Jahren in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel mit dem Titel „Warum in der Schule nur männliche Autoren gelesen werden“ las, wurde der Deutsch- und Sozialkundelehrerin am Oberstufenzentrum (OSZ) Gesundheit in Berlin-Wedding deutlich bewusst: Auch in den Vorgaben für das Deutsch-Abitur an ihrer Schule kommen kaum Schriftstellerinnen vor.
Ein Blick zurück in ihre Unterlagen belegte die Geschlechterungleichheit: Seit 2013 mussten an ihrer Berufs- und Fachoberschule folgende Autoren gelesen werden: Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist, E.T.A. Hoffmann, Daniel Kehlmann, Heinrich Böll, Friedrich Hebbel, Robert Seethaler, Gotthold Ephraim Lessing, Peter Stamm, Johann Wolfgang von Goethe, Bertolt Brecht, Theodor Fontane, Gerhart Hauptmann, Georg Büchner, Franz Kafka. Autorinnen gab es nur drei: Christa Wolf, Juli Zeh, Birgit Vanderbeke.
Das wollte die Pädagogin nicht länger hinnehmen. Sie kontaktierte die Zeitschrift „Praxis Deutschunterricht“ aus dem Westermann-Verlag und schlug ein Themenheft Frauen und Literatur vor. Der Verlag stimmte zu – und fragte Vanek, ob sie auch einen Beitrag übernehme. Die Studiendirektorin und Fachbereichsleiterin Deutsch recherchierte und stieß auf Erika Mann (1905–1969): „Ich wollte eine Frau finden, die bisher kaum Beachtung erhält“, sagt sie. Im Dezember 2021 erschien das Heft, darin ihr Beitrag „Erika Mann: Ein neuer Typ Frau und Schriftstellerin?“ mit Materialien und Unterrichtsvorschlägen für die Sekundarstufe II.
Forschungsbereich für die Literaturwissenschaft
Die Dominanz von Schriftstellern hat mehrere Gründe. „Im Abitur und Fachabitur werden fast nur Männer gelesen, weil das 18. und 19. Jahrhundert abgedeckt werden muss und aus dieser Zeit kaum Schriftstellerinnen bekannt sind“, sagt Vanek. „Das wäre ein Forschungsbereich für die Literaturwissenschaft.“ Ihr zufolge geht es um mehr als gute Bücher: „Durch die Augen von Frauen geschriebene Literatur wirft einen anderen Blick auf die Welt, vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts.“
Aus dem 20. Jahrhundert, das ebenfalls Teil der Abschlussprüfungen ist, gebe es zwar zahlreiche Autorinnen. „Aber auch aus dieser Zeit kommen vor allem Männer vor.“ Das liege vermutlich auch an fehlender Sekundärliteratur.
Grundsätzlich gilt: Es gibt keinen festen Kanon für den Unterricht, aber Prüfungsvorgaben für das Abitur. Diese sind in jedem Bundesland anders, Unterschiede gibt es auch zwischen den Schulformen. „An allgemeinbildenden Schulen bestehen die Vorgaben aus Themenschwerpunkten, zum Beispiel Romantik, zu denen sich Lehrkräfte die Literatur selbst aussuchen können“, erklärt Vanek. An ihrem berufsbildenden OSZ kann sie nicht auswählen, es gibt Lektürevorgaben.
Sie fordert daher: „Die dafür verantwortlichen Kommissionen müssen sich die Mühe machen, Neues einzubringen. Wenn man dort nicht aus der Routine ausbricht, wird sich kaum was ändern.“ Auch die Kultusministerkonferenz (KMK) könne einen übergreifenden Vorstoß machen.
Anregungen für Lehrkräfte
Die KMK wiegelt indes ab: Auch wenn mitunter der Eindruck bestehe, im Deutschunterricht gebe es einen einheitlichen Literaturkanon, „so ist dem nicht so“. In einigen Ländern existierten zwar Lektüreempfehlungen, aber im Wesentlichen seien Lehrkräfte frei, vor dem -Hintergrund curricularer Vorgaben auszuwählen. Lehrkräfte sollten ermutigt werden, von der eingespielten Literatur abzuweichen, wenn andere Stoffe genauso geeignet seien, das Unterrichtziel zu erreichen.
GEW-Schulexpertin Anja Bensinger-Stolze plädiert dafür, sowohl die Bildungsstandards der KMK als auch die daraus resultierenden Bildungspläne der Länder sollten festlegen, dass Autorinnen und Autoren im Unterricht gleichwertig zu behandeln sind. „Ich würde mir auch wünschen, dass man den Lehrkräften in den Ländern konkrete Beispiele in Form von Handreichungen oder Fortbildungen als Anregung zur Unterrichtsgestaltung an die Hand gibt“, sagt sie. Das Thema Diversität und Literatur gehöre zudem bereits in die Lehrkräfteausbildung sowie später in Fortbildungen.