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Gewerkschaftsarbeit in Corona-Zeiten

Bewusst neue Wege beschreiten

Wie gelingt es trotz Corona-Beschränkungen, neue Mitglieder zu gewinnen? In einer Videokonferenz diskutierten Kolleginnen und Kollegen der GEW mit Organizing-Expertin Emma Forrest von der englischen Partnergewerkschaft National Education Union.

Die zweite Runde der Tarifverhandlungen für die bei den Länder
GEW-Mitglieder bei einer Kundgebung zum Start der zweiten Verhandlungsrunde im Länder-Tarifstreit am 1.11.2021 in Potsdam. (Foto: GEW/Stefan Weitzel)

Organisieren, demonstrieren, streiken: Die klassischen Methoden der Gewerkschaftsarbeit stoßen in Lockdown-Zeiten an ihre Grenzen. Auch die Rekrutierung neuer Mitglieder geschieht unter erschwerten Bedingungen. Die Bildungsgewerkschaft National Education Union (NEU) hat 2020 jedoch gezeigt, dass es gelingen kann, tausende neue Mitglieder zu organisieren und für Protestaktionen zu mobilisieren.

Was lässt sich daraus für die deutsche Gewerkschaftsarbeit lernen, welche Erfahrungen kann die GEW in Tarifrunden nutzen? Um das herauszufinden, diskutierten Kolleginnen und Kollegen der GEW mit Emma Forrest, die bei der NEU die "Organizing-Abteilung" leitet.

Tausende Lehrkräfte traten der Gewerkschaft bei

Die Ausgangssituation, so Emma Forrest, sei nicht nur durch die Corona-Bedingungen geprägt – auch so könnte die Gewerkschaftsbewegung in den nächsten 15 Jahren mehr als die Hälfte ihrer Aktivistinnen, Aktivisten, Vertreterinnen und Vertreter in den Betrieben verlieren. Deswegen sei schnelles Handeln gefragt. In der Coronapandemie beschritt die NEU bewusst neue Wege, um Mitglieder zu gewinnen – mit Erfolg: Tausende Lehrkräfte traten der Gewerkschaft bei.

Digitale Massenevents

Die NEU startete als „Call Hub“ zunächst eine breit angelegte Telefonaktion. Die als „Reps“ bezeichneten gewerkschaftlichen Vertrauensleute wurden in mehr als 3000 Telefongesprächen zur Situation an ihrer Schule während der Pandemie befragt. So blieb die NEU in Kontakt mit den Vertrauensleuten („Reps“) und erhielt einen guten Überblick über die Situation an den Schulen.

Daran anschließende virtuelle „Town Hall Meetings“ - digitale Massenevents - dienten dazu, tausende Mitglieder zu informieren und ihre Fragen zu beantworten.

Wichtig sei, die Kolleginnen und Kollegen direkt anzusprechen: Schon bei der Anmeldung frage man die Mitglieder, ob sie nicht eine aktivere Rolle in der Gewerkschaft übernehmen möchten. Wichtig sei auch das genaue "Targeting". So würden etwa die Schulen mit den meisten Mitgliedern aber den wenigsten Aktiven besonders angesprochen.

In der Tarifrunde öffentlicher Dienst der Länder fordern die Gewerkschaften 5 Prozent, mindestens jedoch 150 Euro mehr Gehalt für die Beschäftigten. Dazu zählen bei der GEW vor allem die angestellten Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen in Deutschland, aber auch die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst sowie an den Hochschulen.

Außerdem soll es 100 Euro monatlich mehr für alle in Ausbildung geben. Die GEW setzt sich weiter für die vollständige Paralleltabelle ein, die eine bessere Eingruppierung für viele angestellte Lehrerinnen und Lehrer unterhalb der Entgeltgruppe 13 und damit mehr Gehalt bringen würde. Zudem fordert die GEW, dass Verhandlungen für einen Tarifvertrag für studentische Beschäftigte aufgenommen werden.

Die TV-L Tarifrunde 2021 gilt als eine der schwierigsten der vergangenen 20 Jahre. Die öffentlichen Arbeitgeber geben sich bisher wenig verhandlungsbereit und verweisen unter anderem auf die Kosten der Coronapandemie. Die Gewerkschaften betonen die hohen Belastungen der Beschäftigten in dieser Zeit und wollen einen fairen Ausgleich.

Drei Verhandlungsrunden

Die erste Verhandlungsrunde zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften findet am 8. Oktober in Berlin statt, die zweite und dritte Runde sind für den 1./2. November und den 27./28. November jeweils in Potsdam geplant.

Die Forderung der Gewerkschaften bezieht sich auf eine Laufzeit des Tarifvertrags von einem Jahr.

In der Tarifrunde 2021 für den öffentlichen Dienst der Länder geht es um Gehaltserhöhungen für rund zwei Millionen Beschäftigte. Ver.di hat gegenüber der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) die Verhandlungsführerschaft für die DGB-Gewerkschaften GEW, GdP und IG BAU sowie die dbb tarifunion.

NEU entwickelte „Eskalations-App“

Während der Coronapandemie brachte die NEU zum Beispiel eine eigens entwickelte „Eskalations-App“ zum Einsatz. Die gewerkschaftlichen Vertrauensleute konnten sie an den Schulen nutzen, um die Umsetzung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu überprüfen und Mängel zu dokumentieren. Die NEU erfasste die Daten zentral und konnte so sehen, inwiefern die Schulen bereit für eine Öffnung waren. Mit der App konnten zudem die gewerkschaftlichen Aktivitäten an den Schulen koordiniert und kontinuierlich gesteigert werden. Über 70.000 Vertrauensleute nutzten die App.

Die Aktivitäten der NEU zielten auch darauf ab, neue Vertrauensleute an den Schulen zu gewinnen. Mit der Einrichtung sogenannter COVID-19-Reps schuf sie eine neue, niedrigschwellige Möglichkeit, sich an den Schulen während der Pandemie zu engagieren. Insbesondere an den meist kleineren Grundschulen konnten so neue Vertrauensleute gewonnen werden. Die Fortbildung der Vertrauensleute erfolgte online. So kann die NEU Erfolge mit 45-minütigen virtuellen Kurztrainings vorweisen.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Hauptamtliche Organizer, so wie Emma Forrest, gibt es in der GEW nicht. Das hänge, betonte GEW-Mitglied Ryan Plocher in der Diskussion, "mit der Idee zusammen, die GEW sei eine Ehrenamtsgewerkschaft".

Die GEW setze stattdessen "auf die Vernetzung mit Menschen, die sagen, wir wollen mitmachen", so Oliver Brüchert, Tarif-Koordinator der GEW. Der Lernprozess in Sachen Online-Vernetzung mit Methoden wie Videokonferenz, Messenger Gruppen, Social Media und Sharepics sei noch voll im Gang. Es gelte, Aktionsformen zu finden, die zur neuen Situation passen.

Dass die gewerkschaftliche Organisationsstruktur in Großbritannien anders als in Deutschland ist, zeigte sich auch in der weiteren Diskussion. So gibt es auf der britischen Insel keine Personalräte in den Schulen. Auch Tarifverhandlungen funktionieren in Deutschland anders: Sie finden nicht auf der betriebliche Ebene statt, sondern stattdessen in zwei großen Runden, einmal mit den 15 Bundesländern en bloc sowie mit Hessen separat.

„Warnendes Beispiel für Deutschland“

Emma Forrest wies zudem darauf hin, dass in Großbritannien die indirekte Schulprivatisierung weit fortgeschritten sei. Immer mehr Schulen – auch Grundschulen - erklären sich zu sogenannten "Charter-Shools" bzw. "Academies", die miteinander im Wettbewerb stehen. Sie könnten sehr frei über ihre Struktur und Bildungsangebote entscheiden, abgesehen von wenigen Kernfächern. Oft werde das Curriculum sehr stark auf akademische Inhalte ausgerichtet, musische und künstlerische Fächer etwa entfallen. Diese Entwicklung sei, so Emma Forrest, ein „warnendes Beispiel für Deutschland“.