Zum Inhalt springen

Türkei

Erdoğan bekämpft Autonomie der Boğaziçi-Universität

In Istanbul wurden Studierende verhaftet und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entlassen. Die GEW beteiligt sich an internationalen Protesten.

1888447669
Studierende der Boğaziçi Universität in Istanbul, Türkeo, protestierten am 6. Januar 2021 gegen die Einsetzung des Rektors. (Foto: Shutterstock)

„Die türkische, hoch angesehene Boğaziçi-Universität wird aufgrund politischer Motive von regierungsnahen Kreisen angegriffen“, heißt es in einem Solidaritätsbrief von Februar 2022, der auch von der GEW unterschrieben wurde. Dies bedrohe deren Existenz als „letzte autonome und freie öffentliche Hochschule des Landes“.

Polizei setzte Gewalt ein 

Am 1. Januar 2021 hatte Präsident Recep Erdoğan das AKP-Mitglied Melih Bulu als Rektor der Istanbuler Hochschule ernannt – ohne die zuständige Fakultät einzubeziehen, die Bulu für inkompetent hält. Dies stieß auf den Protest von Akademiker*innen und Studierenden. Auch die GEW solidarisierte sich mit den Protesten für Wissenschaftsfreiheit.

„Die Polizei wurde gerufen, um Proteste der Studierenden niederzuschlagen und den Campus monatelang zu belagern.“ (Protestschreiben)

Es folgten Angriffe auf Mitbestimmungsorgane, Verwaltung und Studierenden-Klubs der Boğaziçi-Universität. „Die Polizei wurde gerufen, um Proteste der Studierenden niederzuschlagen und den Campus monatelang zu belagern“, so das Solidaritätsschreiben. Hunderte Studentinnen und Studenten wurden verhaftet, manche mussten für Monate in Untersuchungshaft. Sechs Mitglieder der Fakultät verloren ihre Stellung. Professor*innen, die sich den Protesten anschlossen, wurden Ziel von Diffamierungskampagnen regierungsnaher Medien.

GEW gegen Kriminalisierung der Proteste

„Die GEW verurteilt entschieden die Kriminalisierung der Proteste. Studierende und Lehrende haben das Recht, ihre Universitätsleitung selbst zu wählen“, erklärt Andreas Keller, stellvertretender Vorsitzender der GEW und Hochschulexperte.

Keller erinnert daran, dass die Türkei 2020 das Rom-Kommuniqué unterschrieben habe. Die Unterzeichner-Staaten verpflichten sich, Wissenschaftsfreiheit, akademische Selbstverwaltung und Mitbestimmung von Studierenden und Hochschulbeschäftigten zu gewährleisten.

Der Widerstand hatte zunächst Erfolg. Nach sieben Monaten entließ Erdoğan den Rektor. Als Nachfolger wurde Naci Inci bestimmt, erneut am erklärten Willen der Hochschule vorbei. Inci agierte noch drastischer als sein Vorgänger: Er drangsalierte Hochschulangestellte und Studierende und sorgte für willkürliche Entlassungen.

Wird der Campus an den Stadtrand verlagert?

Die Angriffe verschärften sich 2022, als drei gewählte Dekane der Hochschule entlassen wurden – mit der Begründung, sie hätten sich Disziplinarstrafen gegen Studierenden und Fakultätsmitgliedern widersetzt. Erdoğan-Anhänger gewannen nun fast vollständig die Kontrolle über die Hochschule.

„Sie verloren keine Zeit, um ihre Macht zu missbrauchen.“ (Solidaritätsbrief)

„Sie verloren keine Zeit, um ihre Macht zu missbrauchen“, stellt der Solidaritätsbrief fest. Inci sorgte dafür, dass der Hochschulstiftung, die loyal zu den Werten der Universität steht, die Mittel gekürzt wurden. „Die neue Taktik ist offenbar, den Campus umzubauen. Möglicherweise muss die Hochschule an den Stadtrand umziehen.“ Am bisherigen historischen Standort könnte es Erdoğan-nahen Unternehmern erlaubt werden, kommerzielle Einrichtungen zu bauen.

Die Unterzeichnenden des Protestbriefes fordern:

  • Wiederherstellung der Wahlprozesse an der Boğaziçi-Universität, einschließlich der Wahl des Rektors und der Dekane der Institute
  • Wiedereinstellung aller unbegründet entlassenen Beschäftigten
  • Das Ende aller juristischen Angriffe gegen Beschäftigte und Studierende
  • Unterlassung sämtlicher Eingriffe in die Autonomie türkischer Hochschulen

Zu den Unterzeichnern des Briefes zählen neben der GEW die Swedish Association of University Teachers (SULF) und die American Association of University Professors (AAUP). Ihre Solidarität bekunden zudem das Europäische Gewerkschaftskomitee für Bildung und Wissenschaft (EGBW), die türkische Bildungsgewerkschaft Eğitim-Sen, ferner 35 akademische Institutionen und 1000 Hochschulangehörige aus vielen Ländern, darunter Prominente wie der Sprachwissenschaftler Noam Chomsky und die Philosophin Judith Butler (beide USA).