Zum Inhalt springen

Entdeckungen im Plattenbau

GEW-Vorsitzende Marlis Tepe hat auf ihrer Bildungstour durch Deutschland eine sanierungsreife, aber engagierte Leipziger Schule besucht – und viel dazugelernt.

Ein grauer Plattenbau im Leipziger Stadtteil Grünau, einst das zweitgrößte Neubaugebiet der DDR. Die Fenster klappern, die unsanierten Toiletten stinken. Durch das Vordach regnet es rein und im Keller steht Wasser. Seit der Eröffnung 1983 wurde die Schule in der Miltitzer Allee nicht saniert, 2012 sollte sie sogar geschlossen werden. Doch es kam anders, weil soviele neue Kinder kamen. Heute sind es wieder 250 Schülerinnen und Schüler, etwa 100 von ihnen haben einen Migrationshintergrund. Hinter den Scheiben im obersten Stockwerk steht nun trotzig in bunten Lettern: „100. Schule ...einfach bunt“. Die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe hat sich die Grundschule für ihren Besuch in Sachsen auf ihrer bundesweiten Tour „GEW in Bildung unterwegs“ ausgesucht. Sie will sich ein reales Bild von den Arbeitsbedingungen, der Ausstattung und den Bedürfnissen in der Bildungsrepublik Deutschland machen.

An diesem Vormittag sitzt Tepe nun in Zimmer 006 im Erdgeschoss der Leipziger Grundschule zwischen den Kindern der ersten Klasse, sie plaudert, spielt und singt mit den Kindern: „Wenn du glücklich bist, dann klatsche in die Hand …“ Es ist Unterricht in Deutsch als Zweitsprache (DaZ) bei Frau Trepte. Die 23 Schüler aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, aus Serbien, Mazedonien und Tschetschenien sind erst seit sieben Tagen in einer deutschen Schule. Sie lernen gerade spielerisch links und rechts kennen, sie üben Worte wie Tasche, Federmappe, Bleistift und Schere. Von der Decke des Klassenzimmers baumeln bunte Wimpel verschiedenster Länder, an den Wänden hängen mehrere Weltkarten. Grit Trepte, eine Frau mit blonder Undercut-Frisur und vielen Armreifen, gibt alles, um die Schülerinnen und Schüler bei der Stange zu halten. Man merkt ihr die Leidenschaft für den Unterricht mit den Kindern aus aller Welt an – auch wenn die Arbeitsbedingungen wahrlich besser sein könnten.

Sachsen, sagt Marlis Tepe, sei ein besonderes Land auf der deutschen Bildungs-Landkarte. Auch wenn der östliche Freistaat bei Schul-Monitorings meistens positiv auffalle, sei die Abitur-Quote doch geringer als im Bundesvergleich, die Schulabbrecher-Quote liege dagegen beinah an der Spitze. Dieses Dilemma werde bei guten Rankings schnell vergessen. Für die GEW ist Sachsen zudem eine tarifpolitische Hochburg. Weil fast nur Schulleiterinnen und Schulleiter verbeamtet werden, sind die meisten der rund 30.000 Lehrerinnen und Lehrer des Landes Angestellte. „Auf diese Kampfkraft können wir uns verlassen“, sagt Tepe.

„Die Größenordnung bei den Seiteneinsteigern ist eine Katastrophe. Der Qualitätsschaden wird nicht mehr so schnell aufzuholen sein.“ 

Doch das Land leidet mittlerweile unter dramatischen Nachwuchsproblemen. Jedes Jahr gehen mehr als 1.000 Pädagogen aus DDR-Zeiten in den Ruhestand, ausgebildet wurde jedoch nur ein Bruchteil dessen. Der Geburtenknick Anfang der 1990er Jahre hat die Lage überdies verschärft. „Sachsen hat ungeheuer viel versäumt“, beklagt Marlis Tepe. „Man hätte viel mehr Studienplätze im Lehramt vorhalten und Nachwuchs ausbilden müssen.“ Die Konsequenz: Mehr als die Hälfte der neuen Lehrer, die das Kultusministerium diesen Sommer eingestellt hat, waren Seiteneinsteiger ohne grundlegende pädagogische Ausbildung. Wenn an sächsischen Oberschulen von 540 neuen Kollegen nur noch 37 ein ordentliches Lehramtsstudium hätten, sei eine gerechte, angemessene Bildungsversorgung nicht mehr gegeben, kritisiert Tepe. Cornelia Falken, die Vorsitzende des GEW-Bezirksverbandes Leipzig und Kennerin der regionalen Szene, befürchtet gravierende Langzeitschäden: „Die Größenordnung bei den Seiteneinsteigern ist eine Katastrophe. Der Qualitätsschaden wird nicht mehr so schnell aufzuholen sein.“

„Alle, die an einer Schule arbeiten, sollten das gleiche Geld bekommen.“

Auch an der 100. Grundschule in Grünau ist das Kollegium inzwischen bunt gemischt. Von 19 Lehrerinnen und Lehrern sind fünf Seiteneinsteiger. Zwar seien die meisten von ihnen glücklicherweise sehr motiviert, erzählt Grit Trepte, die zugleich stellvertretende Schulleiterin ist. „Aber vieles bleibt an uns hängen. Es dauert, bis eine Entlastung eintritt.“ Für Frust sorgt zudem die Ungleichheit, wenn Gymnasiallehrer an Grundschulen abgeordnet werden. Denn die erfahrenen Grundschullehrer müssen die Kolleginnen und Kollegen anleiten, obwohl sie deutlich weniger Gehalt bekommen. 400 Euro weniger Entgelt im Monat bedeuteten auf die Lebensarbeitszeit ein Defizit von 150 000 Euro. „Alle, die an einer Schule arbeiten, sollten das gleiche Geld bekommen“, fordert Tepe. „Wir brauchen eine Bezahlung mindestens in der Entgeltgruppe E 13.“ Gerade in Sachsen mit seinem akuten Lehrermangel wäre eine Aufstockung der Bezahlung dringend geboten. Um die Lücken in den Lehrerzimmern zu schließen und zu verhindern, dass gute Absolventen in andere Bundesländer abwandern.

Gegen Mittag dieses Tages versammelt sich die GEW-Delegation in einem Pausenraum, den die Lehrerinnen und Lehrer mit alten Sofas vom Anfang der 90er Jahre selbst möbliert haben. Geld ist knapp in der Stadt Leipzig. Weil die Bevölkerungszahl in den vergangenen sechs Jahren um mehr als 100 000 auf 580 000 Menschen gewachsen ist, müssen reihenweise neue Schulen gebaut werden. Die Modernisierung alter Standorte muss warten, es fehlt sogar an Schulmaterial. Grit Trepte etwa bringt schon mal selbst erstelltes Ausstattungsmaterial für ihr Klassenzimmer mit. „Die Analysen der GEW bestätigen sich“, sagt Marlis Tepe. „Den Kommunen fehlt massiv Geld für eine ordentliche Ausstattung ihrer Schulen.“ Den immensen Bedarf habe eine Studie der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) vorigen Herbst bestätigt. Demnach beziffern die Kämmerer der deutschen Kommunen den Investitionsstau in der Schulinfrastruktur auf 34 Milliarden Euro. Das Geld werde dringend benötigt, so Tepe, „damit Lernen in angenehmen Räumen stattfindet“. Die GEW-Vorsitzende will daher, dass das Bund-Länder-Kooperationsverbot in der Bildungslandschaft aufgehoben wird, damit der Bund die Kommunen bei dieser Mammutaufgabe finanziell unterstützen kann.

„Wir brauchen Schulen, wir brauchen Personal.“

Begleitet wird Tepe in Leipzig von DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell, der ebenfalls auf Sommertour ist. Er kommt an diesem Tag zu ähnliche Einsichten. Der Besuch der 100. Grundschule habe ihm einmal mehr vor Augen geführt, dass die Bundesregierung künftig mehr Finanzmittel in die Bildungs-Infrastruktur investieren muss. „Wir brauchen Schulen, wir brauchen Personal“, sagt Körzell. „Die Handlungsnot ist groß.“ Der DGB hat zur Bundestagswahl ein Steuerkonzept vorgelegt, das Sachsen knapp zwei Milliarden Euro Mehreinnahmen bescheren würde. Das aktualisierte Steuerkonzept der GEW zur Finanzierung des Bildungssystems würde sogar ein Plus von 3,2 Milliarden Euro in die Kassen des Freistaates und seiner Kommunen spülen. Gebraucht wird das Geld allemal. Die Leiterin der 100. Grundschule, Franziska Horn, erzählt, dass sie im Leipziger Rathaus manchmal dazu ermuntert wird, Förderanträge für Ausstattungsprojekte zu stellen. Sie hat nur ein Problem: „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“

Links