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Emotionen und Hypothesen: GEW ringt um Umgang mit NS-Historie

In der Debatte um die NS-Geschichte der GEW wird der Ton in der Gewerkschaft schärfer: Bei der Vorstellung der Max-Traeger-Biografie von Hans-Peter de Lorent am Rande des Gewerkschaftstages in Freiburg ging es auch emotional zu.

Foto: Kay Herschelmann

In der Diskussion um die Aufarbeitung der NS-Geschichte der GEW verhärten sich die Fronten: Der Autor der ersten wissenschaftlich fundierten Max-Traeger-Biografie, der frühere Hamburger Landeschef Hans-Peter de Lorent, fordert den Erziehungswissenschaftler Benjamin Ortmeyer auf, seine Vorwürfe zurückzunehmen. Dieser hatte Traeger, erster Vorsitzender der GEW und Namensgeber der wissenschaftlichen Stiftung der GEW, vorgeworfen, ein NS-Mitläufer gewesen zu sein. "Ortmeyer muss öffentlich zugeben, dass Traeger kein Mitläufer war. Das erwarte ich", sagte de Lorent am Sonntagabend während der Veranstaltung in Freiburg. "Es ist kein Kavaliersdelikt, jemanden als Nazi zu bezeichnen." Ortmeyer selbst kam nicht zur Buchvorstellung, ließ vorab jedoch ein Heft verteilen, in dem er die Person Traeger weiter in Frage stellt und de Lorent vorwirft, konkreten Fragen zur Rolle Traegers auszuweichen.         

Hintergrund der Debatte ist ein Buch von Ortmeyer und Saskia Müller ("Die ideologische Ausrichtung der Lehrkräfte 1933-1945") über den Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB), in dem 97 Prozent aller Lehrkräfte während der Nazi-Zeit Mitglied gewesen seien, darunter auch Traeger (1887-1960). Genauer gesagt geht es um das letzte Kapitel des Bandes, in dem sich Ortmeyer/Müller mit der GEW auseinandersetzen, ihre Thesen zur und ihre Kritik an der GEW jedoch nicht wissenschaftlich untermauern. Viele Lehrkräfte, die in der Nazi-Zeit tätig waren, unterrichteten später in der Bundesrepublik weiter - was das Thema über die GEW hinaus ins gesamtgesellschaftliche Interesse rückt. Der Streit ist komplex, beinhaltet mittlerweile etliche unterschiedliche Ebenen, die zunehmend vermischt werden. Das machte die GEW-Diskussion deutlich.

Es geht zum einen darum, welche Rolle eine der GEW-Vorgängerorganisationen aus Hamburg, die "Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens" (GdF), zur NS-Zeit spielte - und um Ortmeyers und Müllers schweren Vorwurf, die GEW habe in der Bundesrepublik "Renazifizierung" von Lehrkräften betrieben. Eine Hypothese, die die beiden aber nicht überprüft haben, es gibt also keine Belege. Zum anderen spitzt sich ein Teil der Auseinandersetzung auf Traeger zu, der nach der Befreiung vom Faschismus mit Akzeptanz der britischen Militärregierung eine neue Lehrergewerkschaft aufbaute und diese in den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) führte. Traeger war von 1947 bis 1952 erster Vorsitzender der GEW und wurde 1958 noch einmal gewählt. Er stand bis zu seinem Tod 1960 an der Spitze der Gewerkschaft. Heinrich Rodenstein, zweiter Vorsitzender der GEW, der während der Nazi-Zeit emigierte, sorgte dafür, dass die wissenschaftliche GEW-Stiftung nach Traeger benannt wurde. Die Gründe: Traegers gewerkschaftliches Engagement beim Aufbau der GEW und sein erziehungswissenschaftliches Engagement. Diskutiert wird über Traegers Rolle während der Zeit von 1933 bis 1945: Während Ortmeyer/Müller Traeger als "Mitläufer" bezeichnen, laut Ortmeyers eigener Aussage aber nicht zu seiner Vita in dieser Zeit geforscht haben, war dieser de Lorent zufolge zwar kein Widerstandskämpfer, aber Nazi-Gegner.

Über Traeger debattiert die GEW auch mit dem Nachwuchs: Der Bundesausschuss der Studentinnen und Studenten (BASS) verlangt eine Namensänderung der Max-Traeger-Stiftung, weil Traeger Opportunist gewesen und kein Vorbild sei. Der Hauptvorstand (HV), das zwischen den Gewerkschaftstagen höchste beschlussfassende, rund 70-köpfige GEW-Gremium mit Mitgliedern aus allen 16 Landesverbänden (auch des BASS) lehnte dies auf Grundlage der Forschungsergebnisse de Lorents mit überwältigender Mehrheit vorerst ab. Der HV will auch die Ergebnisse von Historikern der Universität Leipzig bewerten, die die  Geschichte der GEW während und nach der NS-Zeit erforschen werden und ihre Arbeit im Herbst aufnehmen sollen.      

Debatte um Begrifflichkeiten und ein Generationenkonflikt

De Lorent bekräftigte in Freiburg, warum er Traeger u.a. als entlastet sehe: Dieser sei Mitglied der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) gewesen und nie in die NSDAP eingetreten, habe mit anderen Lehrern einen "Untergrundvorstand" gebildet und sei 1933 von den Nazis als Schulleiter entlassen worden. Zudem wartete der Gewerkschafter, der seit 40 Jahren zur Geschichte des Hamburger Bildungswesens zur NS-Zeit forscht, mit einem neuen Trumpf auf: Er zeigte Papiere der britischen Militärregierung und der Entnazifizierungsbehörde, denen zufolge Traeger nach Kriegsende in die "Kategorie Fünf" eingeordnet wurde - unbelastet. "Mitläufer wäre Kategorie Vier gewesen." Die Kampagne Ortmeyers und Müllers basiere "auf Falschinformationen".

Ortmeyer wiederholte in seiner jüngsten Publikation derweil seine Position: Als Mitglied der Deutschen Staatspartei sei Traeger 1933 an der Koalition mit der NSDAP im Hamburger Senat beteiligt gewesen. Dem NSLB habe er sich mit der GdF zu einem frühen Zeitpunkt angeschlossen, als dies erst 30 Prozent der Lehrkräfte getan hätten. Er habe nicht wie andere ein Berufsverbot bekommen und weiter unterrichten dürfen. Zudem sei er kein Aktivist gewesen und habe später nie gegen die Renazifizierung an Schulen protestiert. 

Bei der Debatte am Sonntag zeigte sich derweil auch: In diesem Streit geht es um noch viel mehr. In der GEW wird über Begrifflichkeiten und Interpretationen diskutiert: Wie definiert man Mitläufer, was genau ist ein Vorbild, wofür konkret soll Traeger Vorbild sein, ab welchen Aktivitäten kann von Widerstand gesprochen werden? An dieser Frage entzündet sich offenbar auch ein Generationenkonflikt: Während jüngere Gewerkschaftsmitglieder überzeugt sind, Widerstand sei immer möglich, verweisen Ältere mit Nachdruck darauf, dass die gesellschaftliche und politische Situation, die Zwänge einer zeitlichen Epoche, aber auch die private Situation eines Menschen für eine faire Bewertung des Einzelfalls berücksichtigt werden müssten.

Auch de Lorent betonte an die Adresse Ortmeyers gerichtet: "Ich glaube, dass der Kollege keine realistische Einschätzung der Situation hat, die 1933 bestand." Der frühere Gewerkschaftsvorsitzende verwies etwa auf 38,8 Prozent Stimmen für die NSDAP, die damit klar stärkste Partei im Parlament war, Verhaftungen von Abgeordneten der Kommunistischen Partei, Verfolgung von SPD-Mitgliedern, Sturm auf Gewerkschaftshäuser. Plus das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das ermöglichte, Lehrkräfte zu entlassen.

 Fehlende Belege und Zweifel an Quellen

Darüber hinaus streiten beide Lager um korrekte wissenschaftliche Arbeitsweisen: GEW-Mitglieder, die hinter den Recherchen de Lorents stehen, warfen Ortmeyer am Sonntag nicht belegte "Hypothesen" vor. Dieser hingegen zweifelt in seiner Stellungnahme die Glaubwürdigkeit der Quellen der Biografie de Lorents an: Diese seien Einschätzungen von Freunden und Kollegen Traegers. Die GEW-Studis monierten, der Hauptvorstand habe sich vorschnell festgelegt, Traeger einen Nazi-Gegner zu nennen: "Das ist Hofberichterstattung." Eine offene Debatte sei so nicht mehr möglich.    

Ungeachtet aller Differenzen gibt es einen Konsens, den de Lorent so formulierte: Ortmeyers Buch habe "einen wichtigen Anteil daran, dass man sich mit Max Traeger" und der Geschichte der GEW beschäftige.

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