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Gastkommentar

Eisenkugeln am Bein

Anstatt Bildung als Weg aus der Armut zu verkaufen und ihr damit einen rein nutzenmaximierenden Ballast aufzuladen, sollte die Politik lieber dafür sorgen, dass kein Mensch mehr in Armut leben muss.

Christian Baron (Foto: Hans Scherhaufer)

Kaum ein Wert ist sozial so positiv konnotiert wie der der Bildung. Wer in Armut lebe, so heißt es, müsse sich Bildung aneignen, denn das sei der beste Weg in ein gutes Leben. Rufe nach Umverteilung seien nicht angebracht, stattdessen brauche es eine „Politik der Befähigung“. Dabei löst der Staat sein Versprechen des sozialen Aufstiegs durch Bildung in materieller Hinsicht kaum mehr ein. In einst prestigeträchtigen Berufsfeldern in der Medienbranche, der Wissenschaft oder im Kreativsektor häufen sich die prekären Beschäftigungsverhältnisse. Am eigenen Beispiel hat die aus einem Sozialhilfehaushalt stammende Journalistin Undine Zimmer das Problem in ihrem Buch „Nicht von schlechten Eltern“, das 2013 erschienen ist, treffend beschrieben: „Inzwischen habe ich zum vierten Mal den Stundungsantrag für mein Studienabschlussdarlehen bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) abgeschickt. Jedes Jahr kommen Zinsen hinzu. Während des Jahres versuche ich, nicht an die Gesamtsumme meiner Schulden zu denken, die ich dem Staat für meinen Bildungsaufstieg zurückzahlen muss.“

Es klingt paradox: Die Quote der Studienberechtigten -eines Jahrgangs stand 2019 bei sagenhaft sozialdemokratisch anmutenden 50,6 Prozent, die absolute Zahl der Studierenden hält sich seit Jahren bei etwa 2,8 Millionen. Trotzdem vergrößert sich die soziale Ungleichheit. Dafür gibt es einen handfesten Grund: In Zeiten verschärfter Bildungskonkurrenz werden private Ressourcen immer wichtiger. Während die gesellschaftliche Liberalisierung in Deutschland voranschreitet, etablierte die rot-grüne Bundesregierung ab 1998 einen der größten Niedriglohnsektoren Europas. Und der trifft immer häufiger auch Akademikerinnen und Akademiker. Der Kampf um die gut bezahlten und unbefristeten Arbeitsplätze etwa im sozialwissenschaftlichen Bereich wird härter. Die soziale Herkunft wurde dabei zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil für Menschen mit akademisch gebildeten Eltern, denen gegenüber der Staat einst sein zentrales Aufstiegsversprechen noch eingelöst hat.

Keine Ansprüche mehr

Für Leute aus einem nicht akademischen und materiell armen Elternhaus ist der Erfolg im immer stärker zum Markt umgestalteten Bildungssystem dagegen so schwierig zu erreichen wie für einen Hundertmeterläufer, der mit 20 Metern Rückstand und einer Eisenkugel am Bein ins Rennen starten muss.

Inzwischen ist es üblich, sich nach dem mit Bestnote abgeschlossenen Studium jahrelang in schlecht oder gar nicht bezahlten Praktika zu verdingen, um irgendwann einen der begehrten Jobs zu ergattern. Alle in diesem Wettbewerb haben sich daran gewöhnt, keine Ansprüche mehr zu stellen. Freiwilligkeit macht sich gut im Lebenslauf und wird damit zur Konvention. Wer nicht bereits während des Studiums unbezahlte Praktika absolviert hat, für den stehen die Chancen zeit seines Berufslebens schlecht. Da überlegt sich das in den Semesterferien kellnern müssende Arbeiterkind beim Abkassieren der im Lokal den neuen Praktikumsplatz feiernden Bürgerkinder genau, ob sich eine Fortsetzung des Studiums wirklich lohnt. Am Ende bleiben überwiegend jene übrig, die sich von den Eltern finanzieren lassen können. -Gegen dieses systemimmanente Problem hilft eine „Politik der Befähigung“ nur dann, wenn die materiellen Voraussetzungen stimmen.

Erst die Umverteilung, dann die Bildung.

Die Formel muss also lauten: Erst die Umverteilung, dann die Bildung. Oder anders gesagt: Ein Goethe-Gedicht kann Wunder bewirken. Essen kann man es aber nicht. Anstatt Bildung als Weg aus der Armut zu verkaufen und ihr damit einen rein nutzenmaximierenden Ballast aufzuladen, sollte die Politik lieber dafür sorgen, dass kein Mensch mehr in Armut leben muss. Nur dann kann sich ein junger Mensch ohne Angst frei entfalten und einen für ihn selbst und die Gesellschaft wertvollen Berufsweg finden.