Serie „30 Jahre Ost-West“
Eine Reihe von Demütigungen
Eva-Maria Stange, zu DDR-Zeiten Lehrerin und von 1997 bis 2005 GEW-Vorsitzende, blickt auf die Einheit 1990 zurück: Der Aufbau des neuen Schulsystems sei für Lehrkräfte in den ersten Jahren mit sehr viel Unsicherheit verbunden gewesen, sagt sie.
Für viele Lehrkräfte im Osten ging die Einheit 1990 mit einer Verlusterfahrung einher. Unterstufenlehrkräfte, in der DDR als vollwertige Lehrkräfte tätig, wurden formal dequalifiziert. Nur die neuen Bundesländer erkannten ihren Abschluss an. Zudem wurden sie im Gehaltstarifvertrag niedriger eingestuft als Lehrkräfte mit einem Grundschullehrer-Abschluss der alten Bundesländer. Zur Gleichstellung mussten sie Anpassungsseminare besuchen. In den ostdeutschen Ländern galt eine spezielle Form des Bundesangestelltentarifvertrags (BAT): der BAT Ost mit einer niedrigeren Bezahlung als im Westen. „E&W“ sprach mit Eva-Maria Stange, zu DDR-Zeiten Lehrerin, nach 1990 in der GEW aktiv und von 1997 bis 2005 Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft.
- E&W: Welche persönliche Erinnerung haben Sie an den 3. Oktober 1990?
Eva-Maria Stange: Eine ambivalente. 1989 und zu Beginn des Jahres 1990 hatte ich die Hoffnung, dass es eine neue, eine gesamtdeutsche Verfassung geben wird. Mit dem Einigungsvertrag im August 1990 war klar, in welche Richtung die Entwicklung gehen wird. Der 3. Oktober 1990 hat die politische Einheit quasi nur noch formal vollendet. Für mich als Lehrerin wie als Gewerkschafterin stellten sich damals existenzielle Fragen, beispielsweise in welcher Form die Ausbildung der Lehrkräfte der DDR zukünftig anerkannt wird. Das hat uns viel mehr beschäftigt als die Unterzeichnung des Einigungsvertrages.
- E&W: Viele Pädagoginnen und Pädagogen waren nach dem 3. Oktober 1990 mit Arbeitslosigkeit und einer Abwertung ihrer beruflichen Leistung konfrontiert. Wie sehr prägt diese Erfahrung Ihrer Ansicht nach heute noch bei vielen Lehrkräften den Blick auf die Einheit?
Stange: Sehr stark, denn davon sind auch die Renten betroffen. Die formale, aber auch menschliche Abwertung setzte ja schon einen Schritt vorher ein. Zu DDR-Zeiten wurden die Lehrkräfte für die unteren Klassen an Fachschulen ausgebildet. 1989/90 sollte es eine Umstellung auf eine Diplom-Lehrerausbildung geben. Diese gab es wegen der Wende dann nicht. Die Unterstufenlehrkräfte waren allerdings dafür ausgebildet, in den unteren Klassen zu unterrichten und als Erzieherinnen oder Erzieher in den Schulhorten eingesetzt zu werden. Das gab es im Westen nicht, und so mussten sie sich nach 1990 entscheiden, ob sie künftig im Hort oder einer Kita oder in der Schule arbeiten wollen. Das hatte erhebliche Konsequenzen. Der Hort gehört zur Kommune, und die Kolleginnen und Kollegen wurden tarifrechtlich herabgestuft. Sie hatten keine Möglichkeit, als Lehrkraft in den Landesdienst zurückzukehren, obwohl sie dafür qualifiziert waren. Eine Anpassungsqualifizierung mussten übrigens auch Erzieherinnen absolvieren. Das wurde als Abwertung der Ausbildung und der beruflichen Leistung erlebt.
Diese mussten auch die Oberstufenlehrkräfte erfahren. Sie waren in der DDR als Diplomlehrer sowohl für den Unterricht an den Polytechnischen Oberschulen (POS) als auch an den Erweiterten Oberschulen (EOS) ausgebildet, letztere waren mit der Sekundarstufe II des Gymnasiums in Westdeutschland vergleichbar. Nach 1990 mussten sie sich für die neu entstandenen Gymnasien bewerben, nicht aber, wenn sie an eine der neu gegründeten Mittelschulen gehen wollten. Von den betroffenen Kolleginnen und Kollegen wurde auch das als Demütigung erlebt.
- E&W: Nach der Vereinigung setzten in den neuen Bundesländern rasante Veränderungen in nahezu allen schulrelevanten Bereichen ein. Ohne viel Vorbereitung musste die damals viel kritisierte Lehrerschaft im Osten die praktische Verantwortung für die Umgestaltung übernehmen. Wie haben Sie diesen Prozess damals erlebt?
Stange: Faktisch lag nur die Verantwortung für den laufenden Unterricht bei den Lehrkräften. Die strukturellen und inhaltlichen Veränderungen wurden politisch gesteuert und durchgesetzt. Formal gab es zwar Möglichkeiten mitzuentscheiden, so zum Beispiel in Form öffentlicher Anhörungen; letztlich entschieden allerdings die politischen Mehrheiten. Das betraf auch die Inhalte des Unterrichts. Die meisten neuen Bundesländer hatten sogenannte Partnerländer aus dem Westen. Im Falle Sachsens war das Baden-Württemberg. Wir haben im Wesentlichen die Stundentafeln und Lehrinhalte von dort übernommen. Das hatte beispielsweise gravierende Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Naturwissenschaften und den sprachlichen und anderen Fächern. In der DDR war der Anteil der Naturwissenschaften sehr hoch, in Baden-Württemberg dominierten andere Fächer. Das stieß auf Kritik von Lehrkräften und Eltern.
- E&W: Dem konnte man nichts entgegensetzen?
Stange: Das Tempo der Veränderungen war so schnell, dass wir als Lehrkräfte zu Beginn des Schuljahres gar nicht wussten, in welcher Klasse wir unterrichten, manchmal nicht einmal, an welcher Schule wir eingesetzt werden. Der Aufbau des neuen Schulsystems war für die Pädagoginnen und Pädagogen in den ersten Jahren mit sehr viel Unsicherheit verbunden. Der Schulbetrieb durfte ja nicht unterbrochen werden. Bis Mitte der 1990er-Jahre mussten sie zwischen den verschiedenen Schulformen und Schulen wechseln. Das und vieles andere hat zu einer großen Verunsicherung bei den Kolleginnen und Kollegen geführt.
- E&W: Wie leicht oder wie schwer war es in der Zeit nach dem 3. Oktober 1990, ostdeutsche Sichtweisen in der GEW zu artikulieren und durchzusetzen?
Stange: Ich hatte immer das Gefühl, dass die beschriebenen Probleme allein die von uns Ostdeutschen sind. Wir wurden von den Kolleginnen und Kollegen aus dem Westen beim Aufbau der GEW unterstützt. Wir haben da viel gelernt in kurzer Zeit. Aber ich hatte den Eindruck, dass wir unsere Probleme immer wieder erklären mussten, weil sie im Westen zu wenig bekannt waren. Ein Beispiel: Für uns war der Kampf gegen die Erhöhung des Stundendeputats eine existenzielle Frage. In der DDR bestand diese aus 21 Stunden, verteilt auf sechs Tage. Nach 1990 wurde die Unterrichtsverpflichtung schrittweise auf 27 Stunden erhöht. Dadurch wurden weniger Lehrkräfte benötigt und es drohten – neben einer Erhöhung der Arbeitsbelastung – Kündigungen. Wir hatten keinen Kündigungsschutz im Tarifvertrag. Den meisten Kolleginnen und Kollegen im Westen waren solche Erfahrungen fremd.
- E&W: 2005 haben Sie nicht mehr für das Amt der GEW-Vorsitzenden kandidiert. Ihre achtjährige Tätigkeit an der Spitze der Gewerkschaft resümierten Sie damals in einem Artikel in der E&W. Darin blickten Sie voller Hoffnung in die Zukunft. Auch wenn konservative Kräfte immer noch versuchten, „die Bildungspolitik zur Reproduktion der Klassengesellschaft zu nutzen“, schrieben Sie, was sich besonders beim Kampf um das gegliederte Schulsystem zeige, hätten diese Kräfte „vor der Geschichte bereits verloren“. Sind Sie heute immer noch so optimistisch?
Stange: Ja, auch wenn das Ziel besonders in Sachsen noch weit entfernt ist. 1990 war hier die CDU besonders stark und hat von Anfang an deutlich gemacht, dass sie bildungspolitisch zum dreigliedrigen Schulsystem will. Wir hatten als Gewerkschaft zunächst noch die Hoffnung, dass das System der DDR, in der Kinder länger gemeinsam lernen konnten, wenigstens bis zur Klasse 8 erhalten werden kann. Dies wurde und wird auch von der Mehrheit der Bevölkerung im Osten unterstützt. Es gab in der Wendezeit zahlreiche entsprechende Schulmodelle. Die CDU hat in Sachsen leider die Gesamtschule und alles, was auch nur in die Nähe eines solchen Modells kam, verhindert. Heute zeigt sich allerdings, dass das längere gemeinsame Lernen immer mehr in die Schulsysteme implementiert wird – in Ost wie in West übrigens. Auch in Sachsen wird es Gemeinschaftsschulen geben – 30 Jahre nach der Wende.