Die Autobahn A 40 verläuft vom Niederrhein durch das komplette Ruhrgebiet nach Dortmund. Kurz zuvor, in Essen, geht sie mitten durch die Stadt. Hier ist sie zudem eine Demarkationslinie, die die Metropole in Nord und Süd trennt. Und in arm und reich. Seit 2011 haben die Bürgerinnen und Bürger der 580.000-Einwohner-Stadt es schwarz auf weiß. Damals erschien der Bildungsreport der Stadt Essen, der das krasse Missverhältnis zwischen den Lebensverhältnissen in Zahlen fasste: Im Süden machen mehr als 70 Prozent eines Schülerjahrgangs Abitur, im Norden nicht mal 30. Im reichen Stadtteil Bredeney wechseln 87,6 Prozent der Kinder aufs Gymnasium, in Vogelheim waren es nur 18,9 Prozent, manche Schulen sehen es als Erfolg, wenn sie ein, zwei Schülern pro vierter Klasse die Gymnasialempfehlung ausstellen können.
Die Zahlen alarmierten. „Wenn man davon ausgeht, dass die Kinder im Süden nicht intelligenter sind als im Norden, ist das ein Skandal“, sagt Tani Capitain. Capitain ist Geschäftsführer des Vereins „Essener Chancen“, der als Dach für elf Projekte dient. Ungewöhnlich daran: Sie alle werden seit 2012 in Zusammenarbeit mit dem größten Fußballverein der Stadt betrieben: mit Rot-Weiss Essen (RWE), einem Club, der tief verwurzelt im proletarischen Milieu des Nordens ist. Auch bundesweit war RWE mal eine große Nummer, stellte Nationalspieler und gewann Titel. Heute bleibt überregional nur der Ruhm der Vergangenheit – doch regional ist der Verein quicklebendig. Gut 7.000 Zuschauerinnen und Zuschauer besuchten im Schnitt die Spiele der vergangenen Saison – in der vierten Liga ist das bundesweit Spitze. „Viele Menschen außerhalb von Essen fragen sich, warum man bei all unseren Aktivitäten den Fußball braucht“, lacht Capitain.
Ein Verein als Soziotop, daraus resultiert auch eine Verantwortung. So sah es bereits Michael Welling, der 2012 als RWE-Geschäftsführer die „Essener Chancen“ mitgründete. Und so sieht es Marcus Uhrig, der ihn 2017 ablöste: „Kürzlich war ich mit zwei Spielern in einer Grundschule in Borbeck“, berichtet er, „die Schüler klebten regelrecht an unseren Lippen.“ Das sei ungerecht, schiebt er nach: „Manche müssen sich die richtige Ansprache für die Kids mühsam erarbeiten. Andere kommen vom Fußball und haben sofort Aufmerksamkeit.“
„Oft ist es die direkte, unbürokratische Ansprache, die auf Jugendliche wirkt.“ (Tani Capitain)
Elf Projekte gehören zu den Essener Chancen. Im „Team III“ spielen Menschen mit und ohne geistige Beeinträchtigungen zusammen Fußball. Bei der „Aktion Herzenswünsche“ kaufen RWE-Fans Weihnachtsgeschenke für Kinder, deren Eltern dazu nicht willens oder in der Lage sind. Ein weiteres Projekt ist „Lernort Seumannstraße“ auf dem Gelände des RWE-Nachwuchsbereichs. Hier helfen Pädagoginnen und Pädagogen Jugendlichen aus dem Viertel sowie dem Fußball-Nachwuchs bei den Hausaufgaben und bereiten sie auf Prüfungen vor.
Dann gibt es noch das Projekt „Rot-Weisser Ganztag“, das heute im Stadtteil Kray in der Christophorus-Schule stattfindet. Capitain hat Marcel Lenz und Simon Skuppin mitgebracht, zwei RWE-Spieler, die von den Kindern wie Staatsgäste begrüßt werden. Bei Currywurst und Gemüsesticks verlieren die Mädchen und Jungen schnell ihre Scheu, auf der im Unterricht vorbereiteten „Schüler-Pressekonferenz“ geht die Fragerunde weiter. „Das sind ja originellere Fragen als die von richtigen Journalisten“, sagt Skuppin und verabschiedet sich von Annette Tischler. Auch die Leiterin des Offenen Ganztags bei der Jugendhilfe Essen ist begeistert von der „gelungenen Kooperation“, legt aber Wert auf die Feststellung, dass Fußball nicht das einzige Mittel ist, mit dem Schülerinnen und Schüler aus der Reserve gelockt werden können. „Oft ist es die direkte, unbürokratische Ansprache, die auf Jugendliche wirkt“, glaubt auch Capitain. „Begeisterung ist immer ein tolles Vehikel. Das kann Hip-Hop sein, aber auch Fußball.“
Ein weiterer wichtiger Baustein: „Schule is' auf'm Platz.“ Hier übernehmen Lehramtsstudierende tagsüber die komplette Ferienbetreuung für Kinder im für die schulische Laufbahn so wichtigen dritten und vierten Schuljahr. Drei Mal im Jahr, im Sommer, im Herbst und an Ostern. Während anfangs noch viel zusammen gelernt wurde, stehen heute gemeinsame Aktionen im Vordergrund. Das entsprechende Feedback lieferten nach den Ferien auch die Lehrkräfte – die häufig berichteten, dass sich das Lern- und Klassenklima verbessert habe. Zu den gemeinsamen Aktivitäten können Kletteraktionen gehören oder ein Ausflug zum Baldeney-See im Essener Süden.
„Viele Kinder haben wieder Spaß an der Schule, ihre Leistungen verbessern sich.“ (Peter Renzel)
Als Capitain am Seeufer von einem Kind gefragt wurde, ob das das Meer sei, hat er mal wieder gemerkt, wie wichtig neue Reize für die Mädchen und Jungen sind. „Das sind Aktionen, die sie von zu Hause nicht kennen. Wir reden hier von Familien, die oft noch nie wirklich Urlaub gemacht haben.“ Viel Lob ernten die „Essener Chancen“ von Henning Höcker. Der pensionierte Hauptschullehrer und heutige Öffentlichkeitsarbeiter der Essener GEW betont: „Die niedrigschwelligen Angebote der ‚Essener Chancen’ sind wie einige Graswurzelinitiativen in den Quartieren unverzichtbar für den Schulalltag.“ Der Süden habe sich in den vergangenen Jahren weiter abgekapselt, umso wichtiger sei, dass sich die benachteiligten Viertel selbst helfen. „Es mag pathetisch klingen, aber das sind Leuchttürme der Hoffnung für den Norden.“
Der Essener Bildungs- und Sozialdezernent Peter Renzel (CDU) ist qua Amt stellvertretender Vorsitzender der „Essener Chancen“ und zitiert erst mal ein afrikanisches Sprichwort, um den Ansatz zu veranschaulichen: „Manchmal braucht es ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.“ Überhaupt seien die „Essener Chancen“ gegründet worden, „weil das Medium Fußball eine gute Gelegenheit ist, um Kindern und Jugendlichen eine Bühne zu bieten, sie gleichzeitig zu fördern und zu fordern“. Aus den Schulen kämen ausschließlich positive Rückmeldungen. „Viele Kinder haben wieder Spaß an der Schule, ihre Leistungen verbessern sich.“ Fußball könne ein Transportmittel sein, sich auszuprobieren und das Selbstwertgefühl zu steigern. „Wenn das gelingt“, weiß Renzel, „steigen auch die Erfolge in anderen Fächern. Bei vielen Schülern sind die Noten deutlich besser geworden.“
Capitain muss lächeln, als er mit Renzels Worten konfrontiert wird. „Da kommt keiner mit einer 5 und geht mit einer 2, so einfach ist das nicht“, schränkt er ein. Aber unter dem Strich würden die Leistungen in der Schule eben besser. „Es geht darum, Kinder und Jugendliche in die Gesellschaft zurückzuholen“, sagt Capitain. „Wir müssen die Welt öffnen – und Fußball ist das Vehikel dafür.“