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Schulbesuche

Eine außergewöhnliche jüdische Geschichte

Lorenz Beckhardt wusste lange nicht, dass er Jude ist. Nun hat er seine außergewöhnliche Familiengeschichte aufgearbeitet. Für ihn auch ein Lehrstück über die Notwendigkeit, frühzeitig rechtsextremen Tendenzen entgegenzuwirken.

Foto: Sebastian Willnow
  • E&W: Was macht die Lebensgeschichte ihrer jüdischen Familie so außergewöhnlich?

Lorenz Beckhardt: Unsere Familiengeschichte hat etwas von einem Drama mit einzigartigen historischen Wendungen: Mein Großvater Fritz Beckhardt war Jude, strammer Nationalist und gefeierter Bomberpilot im Ersten Weltkrieg, davon einige Monate an der Seite Hermann Görings, der später zur rechten Hand Adolf Hitlers wurde. Als mein Opa in den 1930er-Jahren eine Beziehung mit einem „arischen“ Hausmädchen hatte, landete er wegen „Rassenschande“ im KZ Buchenwald. Göring sorgte 1940 dafür, dass er freikam und ins Exil nach England zu seinen Kindern fliehen konnte. Doch in den 1950er-Jahren kehrte der überzeugte Deutsche in seine Heimat zurück und erlebte als Kaufmann das noch größere Drama: Er litt unter der Ausgrenzung der Mitmenschen in einer antisemitischen Nachkriegsgesellschaft, die nicht wirklich Wiedergutmachung leistete, wie es vorgesehen war. Er starb 1962 krank und todunglücklich.

  • E&W: Ihre Eltern haben Ihnen die jüdische Abstammung verschwiegen und Sie auf ein katholisches Internat geschickt. Wie haben Sie als junger Mann die Wahrheit erfahren?

Beckhardt: Das war ein langer Prozess, der bei einer Familienfeier begann: Als wir über meine Wehrdienstverweigerung gesprochen haben, sagte ein Verwandter: Du bist doch ein Kind von Nazi-Verfolgten, du musst nicht zur Bundeswehr! Bis dahin hatten meine Eltern nie mit mir über diese Geschichten gesprochen. Ich war sogar katholisch getauft.

  • E&W: Wie gingen Sie mit der Entdeckung um?

Beckhardt: Es gab nach und nach Gespräche mit meinem Vater. Ich erfuhr, dass einige Angehörige meiner Eltern in KZs umgebracht wurden, und ahnte immer mehr: Ich muss Jude sein. Ein Kölner Rabbiner, den ich später um Rat fragte, hat es mir nach Sichtung meiner Familienunterlagen bestätigt. Da war ich schon über 30 Jahre alt.

  • E&W: Durch weitere Recherchen sind ein Dokumentarfilm für den WDR und Ihr Buch entstanden. Warum?

Beckhardt: Das Buch dient auch dazu, den Versuch Hitlers, meine Familie auszulöschen, zu korrigieren. Inzwischen tritt der familienbiografische Teil immer stärker in den Hintergrund. Heute möchte ich die Erfahrungen des Nationalsozialismus für die Gegenwart so transportieren, dass das Buch für eine humane, demokratische Gesellschaft nutzbar ist.

  • E&W: Sie sind oft auf Lesereisen und in Schulen. Was kann man aus Ihrer Familiengeschichte lernen?

Beckhardt: Eine Lehre lautet: In der Geschichte gibt es viel mehr Grauschattierungen als Schwarz-Weiß oder Gut und Böse. Daher beschreibe ich in erster Linie den Alltag der Menschen und mache deutlich, wie sich Stimmungen verändern. Eine Parallele zur heutigen Zeit ist, wie die Demokratie durch Bewegungen von AfD bis Pegida unter Druck gerät und antidemokratische Kräfte stärker werden, sei es in sozialen Medien oder auf der Straße. Dieses Erstarken rechtsradikaler Kräfte und die Bedrohung der Demokratie machen mir Angst, denn Antisemitismus wird richtig gefährlich, wenn die Gesellschaft instabil wird. Die Gleichgültigkeit früherer Zeiten dürfen wir uns daher nicht noch einmal leisten. 1933 konnte man unter Umständen noch naiv sein und nicht ahnen, wie schlimm die Nazi-Bewegung enden würde. So war es leider in meiner Familie und bei vielen Juden. Aber heute muss man klar eine Haltelinie ziehen. Da geht es auch um Fragen wie: Muss man jede Politik hinnehmen, nur weil eine Partei demokratisch gewählt ist, wie einst die NSDAP oder heute die AfD?

  • E&W: Schwere Kost für Schülerinnen und Schüler ...

Beckhardt: Ich glaube nicht. Die dramatische Geschichte meiner Familie vermittelt eine Menge historisches Alltagswissen, das sich – in meiner Person – bis in die Gegenwart erstreckt. Ich sehe sie als Chance zu begreifen, wie sich Geschichte entwickelt, um ähnliche Tendenzen in der Gegenwart abzuwenden. Bei meinen Besuchen in Schulen habe ich erlebt, dass das Interesse der Jugendlichen an solchen biografischen Fragen groß ist. Ein Aspekt ist dabei der Blick auf Antisemitismus und Judentum heute. Es gab jüdische Nazis und es gibt auch heute Juden, die die AfD unterstützen. Da bin ich zu allen Fragen und Formaten gern bereit.

Lorenz Beckhardt kommt honorarfrei in Schulen, bittet aber um Erstattung seiner Unkosten. Möglich ist, mehrere Veranstaltungen an einem Ort am selben Tag zu organisieren. Kontakt per E-Mail und Mobilnummer: Lorenz.Beckhardt@WDR.DE sowie 0172/2598487.