Zum Inhalt springen

Keine Demokratie ohne Demokratiebildung

Ein wichtiger Teil der Schulkultur

Demokratiebildung ist mehr als nur politische Bildung. Im Idealfall sei sie Bestandteil jeden Faches, von Deutsch bis zu den Naturwissenschaften, und fördere kritisches Denken von Schülerinnen und Schülern, sagt Politikwissenschaftler Dirk Lange.

  • E&W: Demokratiebildung, was ist das eigentlich – das Gleiche wie politische Bildung?

Dirk Lange: Tatsächlich werden die Begriffe – auch in der Wissenschaft – häufig nicht exakt voneinander abgegrenzt. Dennoch scheinen mir einige Unterscheidungen wichtig, nämlich politische Bildung von politischer Erziehung abzugrenzen. Letztere dient vor allem dem Systemerhalt. Jeder Staat ist auf Stabilität angewiesen; dazu gehört, dass seine Prinzipien in den Köpfen der Menschen verankert sind und bleiben. Politische Bildung setzt demgegenüber bei den Subjekten – also den Menschen – an; sie hat die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger zum Ziel. Dazu gehört auch die gezielte Förderung der kritischen und kontroversen Betrachtung des Systems, in dem man lebt.

  • E&W: Also sind politische Bildung und Demokratiebildung doch synonym?

Lange: Ich würde eher sagen, Demokratiebildung betont jenen Teil der politischen Bildung, der auf die Vermittlung und Verankerung demokratischer Grundbildung und Prinzipien setzt. Sie setzt weniger als politische Bildung auf demokratische Kontroversität, die ja der Prämisse folgt, dass alles, was in Politik und Wissenschaft kontrovers ist, auch im schulischen Unterricht kontrovers abgebildet werden muss. Demokratische Grundbildung setzt dagegen stärker auf den Konsens, dass Demokratie verteidigt werden muss. Das gilt insbesondere in Zeiten, die von großen gesellschaftlichen Herausforderungen geprägt sind – etwa durch rechtsextreme Tendenzen. Deswegen betont sie stärker Prinzipien und Grundwerte, die nicht verhandelbar sind, wie Gleichheit oder die Menschenwürde.

  • E&W: Und: Politische Bildung ist an Schulen – etwa im Politikunterricht – festgeschrieben, Demokratiebildung hingegen nicht, oder?

Lange: Politische Bildung zieht sich sogar durch eine ganze Reihe Fächer, von Politik & Wirtschaft über Gemeinschafts- bis zu Sozialkunde. Und auch Demokratiebildung ist auf mehrfache Weise in der Schule verankert – oder sollte es zumindest sein: nämlich in den genannten wie in allen anderen Fächern. Im Idealfall ist Demokratiebildung Bestandteil jeden Faches, von Deutsch bis zu den Naturwissenschaften.

  • E&W: In Deutsch kann ich mir das ja vorstellen – aber in Chemie?

Lange: Ja, natürlich – denken Sie an Fragen von Nachhaltigkeit und Ökologie, der Verantwortung der Gesellschaft für die künftigen Generationen. Das sind ganz klassische Fragen von Demokratiebildung. Im Kern widmet sie sich drei großen Themen: Erstens der Demokratie als Staatsform mit dem Ziel, dass die Schülerinnen und Schüler deren Prozesse verstehen; zweitens ihren substanziellen Elementen, also etwa Menschenrechten, Gleichheit oder Gerechtigkeit; und drittens überprüft Demokratiebildung Prozesse auf ihre demokratische Realität. Dazu gehört die Erörterung, welche Welt folgende Generationen vorfinden. Ganz wichtig ist: Es geht bei Demokratiebildung immer auch um kritisches Denken.

  • E&W: So gesehen gehören auch die Fridays-for-Future-Proteste zur Demokratiebildung?

Lange: Unbedingt – vermutlich ist das aktuell eine der Veranstaltungen, bei denen Schülerinnen und Schüler am meisten lernen.

  • E&W: Warum?

Lange: Weil sie sich aus eigener Motivation interessieren, ihr Wissen vertiefen, außerdem partizipieren und im Anschluss immer wieder beurteilen, ob und wie es aus ihrer Sicht vorangeht. Wichtig ist allerdings, dass Schulen den Schülerinnen und Schülern nicht nur ermöglichen, sich zu beteiligen, sondern ihnen zudem Reflexionsräume bieten, ihr politisches Handeln zu hinterfragen und einzuordnen. Eine demokratiebildnerische Schule zeigt sich nicht nur im Unterricht, sondern auch in anderen Zusammenhängen. Dazu gehört, wie die Schule sich zur Gesellschaft – jener im Stadtteil wie der globalen – ins Verhältnis setzt. Dazu gehört auch das Thema Klimawandel. Und dann ist noch wichtig: Eine Schule, die Demokratiebildung ernst nimmt, setzt sich für eine demokratische Schulkultur ein und für Mitbestimmung der verschiedenen Gruppen.

  • E&W: Was weiß die Forschung darüber, wie demokratiebildnerische Ansätze wirken?

Lange: Viel zu wenig. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern seit Jahren ein Bundesinstitut für die Didaktik der Demokratie. Vorbild könnte etwa das als Teil der Leibniz-Gemeinschaft aus Bundesmitteln finanzierte Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) in Kiel sein. Dieses wurde einst gegründet, weil überdeutlich war, dass es Schülerinnen und Schülern an naturwissenschaftlichen Kenntnissen mangelt. Ebenso sollte die Zeit heute reif sein, auf ähnlich hohem Niveau überprüfbare didaktische Standards in Demokratie- und politischer Bildung zu entwickeln.

  • E&W: Wie sieht es in der Lehrkräfteausbildung aus?

Lange: Zunehmend schlechter – und zwar aufgrund der Bologna-Reform. Vor dieser mussten alle Lehramtsstudierenden gesellschaftsdemokratische Grundkenntnisse in Philosophie, Sozial- und Politikwissenschaften erwerben. Durch den Trend zu mehr Praxistauglichkeit wurde das durch Schlüsselkompetenzen wie Moderation, Präsentation und Konfliktmanagement ersetzt – zu Ungunsten der gesellschaftlichen Grundbildung. Dabei wäre sehr wünschenswert, dass es – ähnlich wie im Bereich Inklusion, Heterogenität oder Mehrsprachigkeit – ein einschlägiges Pflichtmodul für alle angehenden Lehrkräfte gibt. Sodass in ihrer Praxis später alle Lehrkräfte, unabhängig von ihren Fächern, fragen können: Wo kann ich Demokratiebildung unterstützen?

Prof. Dirk Lange / Foto Barbara Mair