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Coronakrise

Ein Virus und viele Fragezeichen

Rund 47.000 Schulen und 56.000 Kindertageseinrichtungen bereiten sich auf den „Corona-Winter“ vor. Sie wollen die von Experten und Politik empfohlenen Maßnahmen zur Risikoeindämmung umsetzen. Doch Verunsicherung und Belastungen sind groß.

Zum Schutz vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus in Schulen und Kitas empfehlen Experten unter anderem regelmäßiges Stoßlüften. Doch das ist in manchen Einrichtungen nicht möglich, weil sich die Fenster nicht öffnen lassen oder Sicherheitsaspekte dagegensprechen. (Foto: picture alliance/Wolfram Steinberg)

Die Warnung kam aus berufenem Mund. Prof. Christian Drosten (Charité Berlin) mahnte vor wenigen Wochen: „Wir werden Probleme kriegen mit der unbeschränkten Schulöffnung, wie sie inzwischen stattgefunden hat.“ Indizien, dass der Virologe, der bereits im Juni für eine Öffnung „aber sehenden Auges“ plädiert hatte, sprechen dafür, dass er recht behalten dürfte: Wenige Tage vor den Herbstferien verkündete die Stadt Bonn, dass seit den Sommerferien 4.550 Quarantänefälle registriert werden mussten. Manche Schulleitungen baten ihre Schülerinnen und Schüler mit Beginn der Ferien vorsorglich, alles Lehrmaterial mit nach Hause zu nehmen. Man wisse ja nicht, ob man sich von Angesicht zu Angesicht wiedersehen werde. Im benachbarten Siegburg wurden Schülerinnen und Schüler einen Tag früher in die Herbstferien geschickt, die Kitas schalteten auf Notbetreuung.

Drosten und viele seiner Kolleginnen und Kollegen raten zur strikten Einhaltung der AHA-Regeln – Abstand, Hygiene, Alltagsmasken. Lüften inklusive. Alle 20 Minuten sollen die Räume quergelüftet werden – fünf Minuten lang. Die Türen bleiben eh geöffnet. „Wir haben unseren Schülerinnen und Schülern bereits gesagt, dass sie sich in den Wintermonaten entsprechend kleiden sollen“, versichert Timo Hepp. Er leitet die Gemeinschaftsschule Probstei in Schönberg (Schleswig-Holstein).

Theoretisch sei das auch in den Kitas möglich, meint die Leiterin einer Einrichtung in Hessen, die nicht genannt werden möchte. „Aber eben unrealistisch“, erklärt sie und weiß sich mit Kolleginnen einig. Häufig lassen sich die Fenster aus Sicherheitsgründen gar nicht komplett öffnen. Die Außentüren offen stehen zu lassen, berge die Gefahr, dass Kinder unbemerkt aus dem Gruppenraum verschwinden. An mögliche Folgen mag die besorgte Kita-Leiterin gar nicht denken.

Aus Gesprächen mit anderen Führungskräften weiß sie: „Wir versuchen alle, unserer Verantwortung gerecht zu werden. Jeder aber macht es anders, und für alle ist es irgendwie ein Drahtseilakt.“ Was auch fürs Tragen von Masken gilt. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) hält es in der Kita für „unpraktikabel“. Erzieherinnen und Erzieher sollten sie aufsetzen, „wo es nötig ist“. Kranke, fiebernde Mädchen und Jungen sollten der Kindertagesstätte und Kindertagespflege fernbleiben.

„Ein angemessener Infektionsschutz ist nicht zu gewährleisten. Das aber wird billigend in Kauf genommen, weil man glaubt, eine Schließung der Bildungseinrichtungen verursache größere Schäden.“ (Lüder Ruschmeyer)

Auf die Vielzahl der individuell verantworteten Lösungsansätze reagierten das Deutsche Jugendinstitut (DJI) und das Robert-Koch-Institut (RKI). Sie starteten eine Studie, die Erkenntnisse zusammenträgt, wie die Einrichtungen und die Tagespflege auf die organisatorischen, hygienischen und pädagogischen Herausforderungen während der Pandemie reagieren und wie sich das Infektionsgeschehen auf die Kindertagesbetreuung auswirkt. Die Studie soll dazu beitragen, Familien und Fachkräfte gezielter zu schützen. 10.000 Kitas meldeten sich bis September zur Teilnahme an der Studie an.

Die Probleme in Kitas und Schulen ähneln sich. Lüder Ruschmeyer, Leiter des Städtischen Kölner Gymnasiums Kreuzgasse, ist sicher: „Ein angemessener Infektionsschutz ist nicht zu gewährleisten. Das aber wird billigend in Kauf genommen, weil man glaubt, eine Schließung der Bildungseinrichtungen verursache größere Schäden.“ Das unterstreicht auch GEW-Vorsitzende Marlis Tepe und fordert von den Ländern einheitliche Vorgaben: „Sonst werden Regelungen schwer durchzusetzen sein.“ Sie stuft den Vorschlag der Politik, in Kohorten zu arbeiten, um den Abstand gewährleisten zu können, als Augenwischerei ein: „In Bussen und im Ganztag ist das nicht umzusetzen.“ Erzieherinnen, Erzieher und Lehrkräfte gingen ein sehr hohes persönliches Risiko dafür ein, das Recht auf Bildung aufrecht zu halten: „Viele fühlen sich von ihrem Arbeitgeber alleingelassen und als Versuchskaninchen.“

„Die Verunsicherung in Schulen und Kitas ist groß. Viele gehen am Stock. Manche Schulsysteme stehen vor dem Kollaps.“

Das Gymnasium Kreuzgasse hat auf eigene Kosten CO2-Messgeräte für alle Räume angeschafft. „Wenigstens, um in etwa zu wissen, wann wir lüften müssen“, berichtet Ruschmeyer. Die Installation empfiehlt auch die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) auf ihrer Homepage „Arbeitsschutz ist Gesundheitsschutz“. Rund 30 Euro blätterte die Kölner Schule pro Gerät auf den Ladentisch. Eine dauerhaft lohnende Investition. Glaubt man. „Denn die Luft in deutschen Klassenzimmern grenzt auch ohne Corona an Körperverletzung – für alle“, so Ruschmeyer. Vom gesellschaftlich geltenden Mindestabstand von 1,5 Metern zwischen zwei Menschen könne in üblicherweise kleinen Räumen nur geträumt werden, in Bussen ohnehin.

Er ist sicher: „Die Verunsicherung in Schulen und Kitas ist groß. Viele gehen am Stock. Manche Schulsysteme stehen vor dem Kollaps.“ Zu der ohnehin enormen Belastung kommt hinzu, dass sich die Lehrkräfte sowohl für Präsenz- als auch Distanzunterricht wappnen müssen. „1:1 ist das nicht übertragbar“, ist Volkmar Hinz überzeugt. Er leitet das Labor für „Schul-IT-Infrastruktur und digitale Lernwerkzeuge“ an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Seit 25 Jahren befasst er sich mit IT in Schulen, speziell mit dem Thema schulgeeigneter IT-Infrastrukturen. Er projektierte und richtete Referenzlösungen an Schulen in freier Trägerschaft ein. Hinz weiß, mit einem Teil der Klasse live in der Schule zu arbeiten und gleichzeitig per Kamera auf die zu Hause am Bildschirm Zugeschalteten einzugehen, ist nahezu unmöglich. „Eine Gruppe bleibt auf der Strecke. Da brauchst du schon ein Universalgenie als Lehrkraft“, fürchtet der Laborleiter.

Fehlende Ausstattung

Auch technisch fehle es an der erforderlichen Ausstattung, was bei simplen Dingen beginne: vernünftiges Mikro und Headset. Gänzlich hoffnungslos ist er nicht: „Vieles wäre möglich, aber man müsste Experten einbinden, um die Schulen auf den notwendigen Stand zu bringen und sie mit erforderlichem Equipment auszustatten.“ Von den Lehrkräften erhofft Hinz sich eine Portion Mut und Eigeninitiative: „Nicht für alles sind Fortbildungen erforderlich.“ Aber er weiß auch: Lehrkräfte haben schlechte Erfahrungen sammeln müssen, etwa, dass die Technik im Schulgebäude nicht funktioniert.“ Ruschmeyer zustimmend: „Bei uns gibt es nicht einmal WLAN im Oberstufentrakt.“

Zwischen beiden herrscht Einigkeit, dass für die den Schulen für den Kauf eines Endgerätes zugestandenen 500 Euro pro Lehrkraft nichts „Gescheites“ angeschafft werden kann. „Das ist Mangelmentalität“, sagt Hinz und ahnt: „Da wird keine Freude entstehen.“ Was da vor kurzem als Beitrag zur schnelleren Digitalisierung im Kanzleramt beschlossen wurde, nennt er „Schnellschuss und verbranntes Geld“. 800 Euro sollten seiner Meinung nach angelegt werden. Pro Gerät. Den Preis könne man auch für ansonsten teurere Geräte rausschlagen, wenn ein Bundesland für alle seine Schulen beim Hersteller ordere und nicht jeder Landkreis für sich agiere.

„Ich möchte nicht wissen, wie viele Lehrkräfte in den Herbstferien in der Schule saßen und Geräte eingerichtet haben.“ (Marlis Tepe)

Hinz: „Wenn man überhaupt so viele Geräte bekommt und auch noch Elektriker, wenn beispielsweise Kabel verlegt werden müssen.“ Ruschmeyer ist mit Blick auf die Zeitschiene skeptisch: „In diesem Jahr wird das nichts mehr mit Endgeräten für alle in Köln.“ Die aber würden bei Distanzunterricht besonders dringend benötigt – Lehrkräfte dürfen aus Datenschutzgründen ihre privaten Geräte nicht nutzen. Ruschmeyer: „Und den Antrag, das doch zu dürfen, versteht kein Mensch.“

Tepe begrüßt die Entscheidung der Politik, jetzt zügig die Digitalisierung voranzutreiben. Sie räumt ein, dass es für die Politik schwierig sei, Maßnahmen zu ergreifen, ohne viel über das Virus zu wissen. Aber sie kritisiert: „Es wird so getan, als wäre mit dem Tag der Entscheidung alles gut. Doch die Ausstattung benötigt Zeit und Personal.“ Nachdenklich fügt sie hinzu: „Ich möchte nicht wissen, wie viele Lehrkräfte in den Herbstferien in der Schule saßen und Geräte eingerichtet haben.“