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#GEWTAG22

Ein vielschichtiges Erbe

Lehrkräfte und ihre Organisationen nahmen während der NS-Zeit weder positiv noch negativ eine Sonderrolle ein. Das ist das Ergebnis einer Studie zur Geschichte der GEW, die auf dem Gewerkschaftstag in Leipzig vorgestellt wurde.

Gewerkschaftstag der GEW am 24. Juni 2022 in Leipzig (Foto: Kay Herschelmann)

Dass Lehrkräfte keine Sonderrolle einnahmen, bedeute aber nicht, „dass sie in ihrer Mehrheit dem Nationalsozialismus sehr nahegestanden hätten. Ihr Verhalten war vielmehr genauso vielschichtig wie das der übrigen Bevölkerung“, fasste Jörn-Michael Goll, Autor der Studie, die Ergebnisse zusammen.

„Die Masse verhielt sich angepasst, aber keineswegs fanatisiert, und setzte die Forderungen des neuen Staates mehr oder weniger um. Dabei finden sich immer wieder positive Beispiele, in denen Lehrerinnen und Lehrer ihren individuellen Handlungsspielraum ausgenutzt haben.“

Die GEW-Vorläuferorganisationen seien sehr unterschiedlich gewesen. „Manche wurzelten in der Kaiserzeit und waren entsprechend geprägt“, betonten Goll und Prof. Detlev Brunner vom Historischen Seminar der Uni Leipzig. Goll und Brunner haben im Rahmen des Forschungsprojekts „Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und das NS-Erbe“ das Thema ausgelotet und versucht, den Umgang der GEW mit den historischen Hinterlassenschaften einzuschätzen.

Lange unbeachtetes Thema

Das Verhalten der Lehrerorganisationen in der NS-Zeit blieb lange unbeachtet. Wie standen sie zum NS-Staat? Wie verhielten sich die Lehrkräfte? Wie ging die GEW nach 1945 mit diesem Erbe um? Den beiden Wissenschaftlern zufolge begann die Beschäftigung der GEW mit ihrer Vergangenheit mit der Diskussion um Max Traeger. Der erste Vorsitzende der GEW prägte maßgeblich deren Entwicklung in den Anfangsjahren.

„Die GEW und ihre Vorläufer müssen im historischen Kontext betrachtet werden“, so Brunner, „nur dann kann man sehen, wie es gekommen ist, welche Handlungsoptionen es gab und wie sich der Prozess entwickelt hat.“

„Einsicht, Schuldgefühl und Verantwortung kamen erst spät.“ (Prof. Detlev Brunner)

Das könne und solle keine Entschuldigung sein. Aber die GEW und ihre Vorgängerorganisationen seien keine Insel gewesen. „Die Lehrergewerkschaften und ihre Mitglieder haben sich in der NS-Zeit und danach wie die Mehrheit der Menschen verhalten. Einsicht, Schuldgefühl und Verantwortung kamen erst spät. Das gilt für die Entnazifizierung wie die Wiedereinstellung von Lehrkräften. Wie viele Deutsche fühlten sie sich eher als Opfer.“

Entsprechend vorbehaltlos stellte sich die noch junge GEW nach 1945 hinter ihre Mitglieder. Auch stark belastete Lehrkräfte wurden schnell rehabilitiert. Selbstkritik war Mangelware. „Selbst die Minderheit jener, die auf Distanz zum NS-Staat oder in die Emigration gegangen war, hatte kein Interesse an einem Rückblick. Wichtiger war ihnen der Aufbau einer starken Organisation. Und das ging nur mit allen.“

Erst Ende der 1950er Jahre setzte eine zaghafte Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ein, aber kaum Selbstkritik. Das änderte sich erst, als in den 1970er Jahren die 68er-Generation peu à peu in wichtige Funktionen gelangte. Seitdem habe die GEW innerhalb der DGB-Gewerkschaften wichtige Pionierarbeit geleistet.

Diskussion auf eine fundierte Grundlage stellen

Die vorliegende Studie stellt aus Sicht von Goll und Brunner keinen Abschluss dar. „Sie soll die Diskussion auf eine fundierte Grundlage stellen. Es bleibt aber eine Aufgabe, die facettenreiche Vergangenheit der GEW weiter auszuleuchten.“

Die Studie ist in der Reihe „Beiträge zur Geschichte der GEW“ beim Verlag Beltz Juventa erschienen: Jörn-Michael Goll, „Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und das NS-Erbe“, 2021, 420 Seiten, ISBN-10: 3779964856, mit einem Vorwort von Marlis Tepe.

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