Zum Inhalt springen

Medienkompetenz

Ein Trend zur Flüchtigkeit

Die Zahl der verkauften Bücher sinkt seit Jahren. Vor allem die gedruckte Literatur ist davon betroffen. Liegt das nur an der Digitalisierung – und welches Potenzial hat Literatur heute noch für den Schulunterricht?

In ein Buch vertieft sind wir ganz bei uns selbst und überschreiten zugleich die Grenzen zu einer fremden Vorstellungswelt. (Foto: mauritius images/Nikolaenko Viacheslav/Alamy Stock Photos)

Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben, über die Sterne.“ Der Schriftsteller Jean Paul (1763 bis 1825) hätte es nicht für möglich gehalten, wie man heute „über die Sterne“ reisen kann, indem man eine Serie streamt oder gar mit Sensoren an Händen, Füßen und Kopf zum „letzten Überlebenden“ auf einer Raumstation wird. Virtual Reality kann süchtig machen, gerade junge Leute, die das Internet zunehmend zur Unterhaltung nutzen. Buchkäufe sind rückläufig, am stärksten in der Gruppe der 40- bis 49-Jährigen, wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels feststellt. Schnelllebigkeit des Alltags, Reizüberflutung, beruflicher Erwartungsdruck – da wird, so überhaupt gelesen wird, „Entspannung/Runterkommen“ zum wichtigsten Motiv. „Seinen Horizont zu erweitern“, gerät ins Hintertreffen.

Und die Schule? „Wenn Kinder lesen lernen, sind sie noch ganz begeistert“, sagt die Berliner Grundschullehrerin Sina L.* über den Unterricht in den Klassenstufen 1 und 2. „Wobei man natürlich merkt, wie der Umgang mit Büchern im Elternhaus ist. Erst einmal gibt es eine große Freude, auch am Vorlesen. Und sogar Spaß daran, selber mal ein Märchen zu schreiben.“ Von gemeinsamen Bibliotheksbesuchen spricht die Pädagogin und von einem Vorlesetag. Ob die Begeisterung nicht doch irgendwann nachlässt, frage ich. „Leider, wie die Lust am Lernen überhaupt“, sagt sie.

Gesamtgesellschaftliches Problem

Aus Spiel wird Pflicht, aus Pflicht wird Last. Die leichter rezipierbaren digitalen Medien werden mit Freizeit assoziiert, das Lesen mit Schule, in der die verschiedenen Fächer ihren Teil verlangen. Keines will zurückstehen, auch wenn es an der Relevanz von Mathematik -weniger Zweifel gibt als beispielsweise an der des Notenlernens. Und wozu braucht man denn den Lyriker Joseph von Eichendorff fürs spätere Leben, wenn man allein dessen Sprache so schwer versteht?

Wohl für das Verständnis einer anderen Zeit und ihrer Geisteswelt – und auch für die Kompetenz, mit einer verschütteten, reichen Sprache umzugehen. Nur wird das in kaum einem Beruf gewürdigt, außer man wählt die Geisteswissenschaft, um sich später vielleicht von einem Projekt zum anderen zu hangeln – oder eben ein Lehramt anzustreben. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, dass der Stellenwert der Literatur sinkt. In China, heißt es, könne man traditionell ohne literarische, künstlerische Bildung kaum in eine gehobene Position gelangen. Hierzulande wird der Begriff „Bildungsbürger“ mitunter gar abfällig verwendet – im Kontrast zur neuen, digital orientierten Mittelklasse und zur prekären Klasse, die viel handfestere Probleme hat.

Und manchmal kommt es einem selbst in den Sinn, dass Menschen auch produktiv und glücklich sein können, ohne dass sie wie ich all ihre freie Zeit mit Lesen verbringen. Hätte ich mehr mit anderen Kindern herumgetollt, hätte ich heute mehr Freude am Sport. Meine Eltern hatten keine Zeit zum Lesen und haben auch mir anderes nahegelegt. Hatte meine Bücherliebe auch etwas mit Abgrenzung zu tun, mit Veranlagung gar?

Literatur kann politisch wirksam sein

Die Schule setzt Bildungsziele, die möglichst viele Heranwachsende erreichen sollen. Und doch: „Sie lesen nicht“, sagt Martin Hatzius, Deutschlehrer an einem Berliner Gymnasium mit hohem Migrationsanteil. Er nimmt es als Herausforderung. Ich staune, wie kreativ Literaturunterricht sein kann, ganz anders, als ich es aus meiner Thüringer Oberschulzeit kenne. Friedrich Schillers Drama „Maria Stuart“ mit verteilten Rollen zu lesen, war für uns ein Höhepunkt an Unterhaltsamkeit.

Bei Hatzius haben die Schülerinnen und Schüler ein Video dazu gedreht und zu Erich Frieds Gedicht „Anpassung“ eine Fotocollage erstellt. Es gibt eine Schreibwerkstatt und einen Erzählwettbewerb. Gerade ist der Schriftsteller Christian Baron zu Gast gewesen, um im Zusammenhang mit dem Thema Armut bei dem Literaten Georg Büchner über dessen politisch brisante Bücher zu sprechen.

Kein Zweifel, Literatur kann politisch wirksam sein. Doch sind Produzenten wie Adressaten vom Stimmengewirr der Medien umspült. Selbst das, was sich dem Mainstream widersetzt, wird irgendwie von ihm geschluckt. Wenn Lehrkräfte bei Schülern über eine geringe Aufmerksamkeitsspanne, über Konzentrationsstörungen klagen, so leiden auch viele Erwachsene darunter. Flüchtigkeitsfehler werden im Unterricht zu Recht angekreidet. Aber ist das Flüchtige, Oberflächliche nicht schon längst dabei, jene Tiefgründigkeit zu besiegen, die Zeit und Konzentration verlangt? Sind vereinfachte Deutungen der Wirklichkeit nicht auch deshalb auf dem Vormarsch, weil sie uns weniger Kraft abfordern?

Sprache formt unser Denken

Was die Reisen in fremde Welten betrifft, sind digitale Medien der Literatur wohl mehr als ebenbürtig. Und sie verlangen einem weniger ab, als ein Buch in sich aufzunehmen und es vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen lebendig zu machen. Doch ist es gerade dieser Vorgang, der Literatur so unersetzlich macht: sich in einen fremden Text zu vertiefen, ihn in seiner Tiefe zu verstehen. Die oft komplexe literarische Sprache in sich aufzunehmen, bereichert die eigene Sprachkompetenz und eröffnet auch im Alltag einen Zugang zur Wirklichkeit, wie man ihn durch ein Denken in schlichten Hauptsätzen nicht bekommt. Wobei Hatzius in unserem Gespräch bekannte, dass er schon einmal ein schwieriges Gedicht mit seinen Schülerinnen und Schülern in Hauptsätze übersetzte, um ihnen einen Schlüssel zum Textverständnis an die Hand zu geben.

Sprache formt unser Denken und umgekehrt. Lesend trainieren wir unsere Vorstellungskraft, üben, Widersprüche und Zusammenhänge in Worte zu fassen, Vielschichtigkeit zu erkennen als Voraussetzung für ein bewusstes, selbstbestimmtes Leben. In ein Buch vertieft sind wir ganz bei uns selbst und überschreiten zugleich die Grenzen zu einer fremden Vorstellungswelt. Welch beglückende Erfahrung! So wie man mit lieblos vermittelter „Pflichtlektüre“ die Freude am Lesen verleiden kann, vermag ein guter Literaturunterricht sie zu wecken. 

*Name bekannt, von der Redaktion geändert