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Ein starkes Fundament schaffen

Chancengerechtigkeit ist mehr als die grundsätzliche Offenheit eines Bildungssystems: "Sie bedeutet, Kinder gemäß ihrer Voraussetzungen zu unterstützen", sagt Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

Um Bildungsgerechtigkeit zu erklären, verwende ich häufig einen Cartoon. Dort steht ein Schiedsrichter, die Trillerpfeife im Mund. Er soll die Zeit stoppen, bis der erste Kletterer den Baumgipfel erreicht, die Krone des Bildungserfolgs. An der Startlinie sieht man einen Affen, einen Pinguin, einen Elefanten und einen Fisch im Wasserglas.

Dieses Bild zeigt uns: Es ist ein Irrglaube, dass alle Menschen in der gleichen Zeit ein klar umrissenes Ziel erreichen können. Kinder aus Elternhäusern mit einem geringen Bildungsstand, Kinder, die gerade in Deutschland angekommen sind und die Sprache noch nicht verstehen, Kinder aus sozial kritischen Stadtteilen haben andere Voraussetzungen als Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern, mit Eltern, die der deutschen Sprache mächtig sind. Sorgfältige wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen: Es liegt nicht an angeborenen Defiziten der Kinder, sondern an nachteiligen sozialen Verhältnissen. Diese müssen angegangen werden, damit Fähigkeiten geweckt und entwickelt werden können.

Wir müssen die Förderung von Kindern also deren jeweiligen Startchancen anpassen. Was bei dem einen Kind als gegeben vorausgesetzt werden kann, ist es bei dem anderen Kind ganz und gar nicht. Chancengerechtigkeit ist deshalb mehr als die grundsätzliche Offenheit eines Bildungssystems. Sie bedeutet, Kinder gemäß ihrer Voraussetzungen zu unterstützen. Um im Bilde zu bleiben: Dem Fisch muss die Bildung "ins Wasser" gebracht werden; und dem Affen ist klarzumachen, dass es um mehr als einen einzigen Satz auf den Gipfel geht. Gegenseitiges Verständnis, Respekt und Hilfestellungen sind angesagt. Dadurch verliert der Affe nichts von seiner Sprungkraft und der Fisch nichts von seiner Wendigkeit im Wasser.

"Eltern spielen dabei eine ganz zentrale Rolle"

 

In den Mittelpunkt rückt damit eine individuelle Förderung entlang der Bildungskette - ein schon im wörtlichen Sinne verbindender Begriff. Mittlerweile weist diese Kette allerdings technokratische Verschleißerscheinungen auf, zum Beispiel gleich an ihrem Anfang: Wir müssen aktiv darum werben, dass Kinder eine frühkindliche Förderung erfahren. Hier können gegebene Benachteiligungen noch am ehesten ausgeglichen werden. Das setzt Investitionen in gut gebildete und ordentlich bezahlte Pädagoginnen und Pädagogen voraus. Und wir brauchen Aufgaben für sie, die auch umsetzbar sind. Dazu gehört ein geeigneter Rahmen: niedrige und nach sozialer Zusammensetzung der Gruppe gestaffelte Betreuungsschlüssel, eine Ausstattung, die nicht vom Wohnviertel abhängt, und Kinder, die auch deswegen viel voneinander lernen können, weil sie aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen kommen.

Eltern spielen dabei eine ganz zentrale Rolle, denn sie sind enorm wichtig für den Lernerfolg über das gesamte Leben. Wir müssen deshalb zu ihnen gehen und sie gewinnen, indem wir ihre Kulturen und Bedenken ernst nehmen. Dies bedeutet auch: kostenfreie Angebote für die vorschulische Bildung. Um dieses Ziel zu erreichen, würde ich sogar Studiengebühren im späteren Leben der Kinder in Kauf nehmen. Denn heute sind viele der teils mehrfach benachteiligten Mädchen und Jungen von einer Hochschulbildung geradezu ausgeschlossen und können das staatlich voll subventionierte Studium erst gar nicht aufnehmen.

Die genannten Notwendigkeiten gelten nicht nur für frühkindliche Einrichtungen, sondern für alle weiteren Bildungseinrichtungen in gleichem Maße. Ich weiß, das kostet. Die Folgen von unzureichender Bildung sind aber viel teurer. Das galt schon immer und gilt weiterhin. Der technologische Fortschritt braucht ein starkes Fundament. Die zunehmend vielfältige Bevölkerung in Deutschland ist auf Respekt und soziales Engagement aller angewiesen. Die Eltern brauchen ein verlässliches Bildungssystem, dem sie ihre Kinder anvertrauen können - möglichst ganztags. Sonst wird es nichts aus gleichen Startchancen, auch für Väter und Mütter.

WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger. Foto: Inga Haar.