Leistungstests
Ein Relikt aus alten Zeiten
Sind unangekündigte Leistungstests noch zeitgemäß? Nein, meint E&W-Gastautor Philipp Thull. Er plädiert stattdessen für eine neue Prüfungskultur, die sich am Humboldtschen Bildungsideal orientiert.
Das Pulver scheint noch nicht verschossen; zumindest ist ein Ende der seit Beginn des neuen Schuljahres um die Exen (in Langform: Extemporalen) entbrannten und anhaltenden Scharmützel auf dem Gebiet der bayerischen Schullandschaft noch nicht in Sicht. Kaum ein anderes Thema erhitzt die Gemüter zwischen Bad Kissingen und Berchtesgaden so, wie die unangekündigte Stegreifaufgabe à la bavaroise. Selbst die angestammten Lehrerverbände zeigen sich in dieser Frage – die für manche zur Überlebensfrage im bayerischen Schulsystem geworden ist – uneinig; während die GEW Bayern und der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) keine Verbindung der Exen zu Leistung und Lernerfolg der Schüler sehen, schwenkt der Bayerische Philologenverband die Fahne der Leistungsgesellschaft, die auch den Jungen so manches – auch Exen – abverlange.
Als Außenstehender, der das bayerische Schulsystem nur aus der Ferne bestaunen und sich vielmehr tagtäglich mit viel Muße durch das rheinland-pfälzische Leistungsbewertungssystem arbeiten darf, stelle ich mir zwei Fragen: Trifft die gegenwärtige Debatte tatsächlich des Pudels Kern? Und ferner: Was kann die Schule in dieser Sache eigentlich von der Universität und ihren Leistungsbewertungsmaßstäben lernen?
Erfahrungsgemäß führt die unangekündigte Überprüfung der zuvor erteilten Hausaufgaben so gut wie nie zu erfreulichen Ergebnissen, geschweige denn zu einer gesteigerten, den persönlichen Lernerfolg beflügelnden Motivation.
Sicherlich: Auch andere Schulordnungen erlauben es Lehrkräften, den Leistungsstand ihrer Schülerinnen und Schüler unangekündigt zu messen; so steht es mir als Lehrperson in Rheinland-Pfalz frei, erteilte Hausaufgaben im Zuge der sogenannten Hausaufgabenüberprüfung (HÜ) abzufragen – auch unangekündigt. Allein: Ich mache von diesem rechtlich garantierten Instrument der Leistungsmessung selten oder nie Gebrauch. Erfahrungsgemäß führt die unangekündigte Überprüfung der zuvor erteilten Hausaufgaben so gut wie nie zu erfreulichen Ergebnissen, geschweige denn zu einer gesteigerten, den persönlichen Lernerfolg beflügelnden Motivation.
Viel sinnvoller erscheint es mir, den Schülerinnen und Schülern durch entsprechende Gestaltung des eigenen Unterrichts den Weg zu solchen Leistungsnachweisen zu ebnen, die einerseits dazu geeignet sind, den eigenen Leistungsstand einzuschätzen und sich mit anderen zu vergleichen, andererseits als Ermutigung zum Weitermachen anregen und das Lernen als einen ganzheitlichen Prozess erfahrbar machen, der vor allem alle weiterbringen will.
HÜs und Exen erwecken leider allzu oft den falschen Eindruck, Sinn des Lernens sei einzig das unter Druck erzielte Lern- und Leistungsprodukt, die gute Note auf dem Papier, das Lob der Lehrkraft. Doch kann es unserem Schul- und Bildungssystem wirklich nur darum gehen, ein produktorientiertes, selektives Verständnis von Leistung zu befördern, das Aneignen spezifischer und oft zusammenhangloser Kenntnisse in den Fokus zu rücken und erbarmungslose Bestenauslese von Anfang an zu betreiben? Die hehren Ziele umfassender Bildung, wie sie einst der preußische Gelehrte Wilhelm von Humboldt und andere definiert haben, lassen sich so jedenfalls mitnichten erreichen; eine echte Persönlichkeitsentwicklung, die Aneignung lebenswichtiger sozialer Fähigkeiten und die Etablierung einer werteorientierten Schulentwicklung bleiben da nur gute Mär.
Aus diesem Grund brauchen wir zweifellos eine Reform der Prüfungskultur, die bewusst Rücksicht auf eine Unterscheidung zwischen Lernzeit und Leistungssituation nimmt, den Schülerinnen und Schülern genügend Freiraum zur Erarbeitung und Vertiefung bietet, ohne den Leistungsgedanken zu vernachlässigen.
Aus diesem Grund brauchen wir zweifellos eine Reform der Prüfungskultur, die bewusst Rücksicht auf eine Unterscheidung zwischen Lernzeit und Leistungssituation nimmt, den Schülerinnen und Schülern genügend Freiraum zur Erarbeitung und Vertiefung bietet, ohne den Leistungsgedanken zu vernachlässigen. Ihnen muss die Gelegenheit zum angstfreien, zum adäquaten Lernen gegeben sein, stets wissend und voraussehend, dass und wann sie Erlerntes anwenden müssen. Nicht, weil sie für die gute Note lernen, sondern weil sie einen Lerngegenstand durchdringen, be-, über- und weiterdenken, weil sie Lernen als Voraussetzung einer mündigen und selbstbestimmten Bildung begreifen sollen. Und: Lehrpersonen müssten in ihrem Unterricht eine Feedback-Kultur etablieren, die über die bloße Abfrage des heute Erlernten und übermorgen Vergessenen hinausweist, die der Schülerin oder dem Schüler exakt vor Augen führt, was sie beziehungsweise er bereits beherrscht, wie sie oder er lernt und welche Lernlücken sich noch auftun.
In Prüfungsangelegenheiten von Universitäten lernen
Könnte die Schule in Prüfungsangelegenheiten nicht auch von der Universität lernen? Sieht man einmal von den Schattenseiten der Modularisierung des Hochschulwesens ab, ließe sich dem Grundgedanken des Humboldtschen Bildungsideals, das ihr zugrunde liegt, für die Gestaltung schulischer Leistungsmessung einiges abgewinnen, was zuweilen in Vergessenheit geraten scheint. Es ist ja Anliegen wohl jeder Hochschule, Studierende in den selbst gewählten Fächern umfassend zu bilden, ihnen die Aneignung eines möglichst breit angelegten Wissens zu ermöglichen und die Fähigkeit zu autonomem und kritischem Denken zu stärken. Dies geschieht nie auf dem Wege zu kurz greifender und gedachter Stegreifaufgaben; vielmehr kennt die Universität viele Leistungsüberprüfungen, die Studierenden im Vorfeld eigenständiges Arbeiten ermöglichen und auch abverlangen.
Ein breit angelegtes Repertoire an Prüfungsmöglichkeiten lässt genügend Freiraum für den eigentlichen Lernprozess, der jede Einzelne und jeden Einzelnen nach eigener Befähigung und Neigung weiterbringen soll. Die Differenzierungs-, Leistungsüberprüfungs- und Feedbackmöglichkeiten sind hier meist deutlich ausgeprägter als in der Dorfschule aus Vorzeiten, die nur ein begrenztes Angebot an methodischer und didaktischer Kunstfertigkeit kennt. Sie wehrt sich – gottlob – immer noch gegen eine Zweckrationalität, die Lernen und Leistung nur als Mittel zum Zweck gebraucht. Sie strebt danach – und hier tritt der Philosoph Friedrich von Schiller mit seinem Konzept einer ästhetischen Bildung als Kronzeuge auf den Plan –, Menschen zu „philosophischen Köpfen“ zu machen, die Wissen als ein lebendiges, zusammenhängendes System begreifen, ganz im Gegensatz zu den bloßen „Brotgelehrten“, für die die Aneignung des Wissens allein dem Zweck dient, dem Leben durch Arbeit und guten Lohn einen Sinn zu verleihen.
Leistung darf und muss sein; und nicht alle werden am Ende dieselbe Leistung erbringen können. Doch: Was jede und jeder Einzelne zu leisten vermag, sollen alle in einem adäquaten Rahmen ohne Zwang leisten dürfen.
Auf die heutige schulische Situation angewendet lässt sich vielleicht behaupten: Zwar zeigen die bayerischen Exen den Lehrerinnen und Lehrern – gewiss mehr als den Schülerinnen und Schülern –, was Hänschen und Lieschen aus den Vorstunden gelernt haben mögen, zumindest oberflächlich; eine echte Durchdringung des Stoffes befördern sie aber sicher nicht. Exen sind eher Relikt aus Zeiten, in denen der Nürnberger Trichter seine Hochzeit feiern durfte; mit modernen Lerntheorien, die angstfreie Bildung ermöglichen wollen, haben sie wenig gemein. Richtig ist: Leistung darf und muss sein; und nicht alle werden am Ende dieselbe Leistung erbringen können. Doch: Was jede und jeder Einzelne zu leisten vermag, sollen alle in einem adäquaten Rahmen ohne Zwang leisten dürfen.
Philipp Thull ist katholischer Theologe und arbeitet als Lehrer für Deutsch, Ethik und katholische Religion an einer Schule in Rheinland-Pfalz; an der Theologischen Fakultät Fulda und der Philipps-Universität Marburg ist er außerdem als Privatdozent tätig.